Ich bin die Ware.

(C) Stefan Siegert

Mein Gott die Warenwelt! Ich lebe bewusst fast siebzig Jahre mit ihr und in ihr und gebe zu, es war mitunter recht lustig. Jener Weinbrand etwa. Jedes Mal, wenn einem etwas Gutes widerfuhr, schien er für die Erwachsenen exakt die richtige Besiegelung ihres Glücks; vielleicht war manchem und mancher gar, als sei es am Ende der Weinbrand selbst, welcher – mit für die Bauchspeicheldrüse auf die Dauer fatalen Folgen – das Gute in ihrem Leben erst herbeiführte. Ganz wie die Zigarette mit dem H und dem B. Mittels einer wunderbar gezeichneten und animierten, sehr komisch ausgedachten männlichen Identifikationsfigur verbündete sich die Werbung in ihr raffiniert humorvoll mit den Ver(b)rauchern. Feixend über das wohlbekannte Ungeschick des, im sich immer gleichbleibenden Finale, an die Zimmerdecke gehenden Werbemännchens, bemerken sie nicht, wie die Zigarette ihnen tatsächlich als Lebenshilfe erscheint.

Für Marxisten sind es nicht die Werbeagenturen und ihre auf den Hund gekommenen Künstler,  die unter mehr oder minder kompetenter und bewusster Nutzung der Tiefenpsychologie ihre Adressatinnen unterwandern, beduseln, verfälschen. Es ist die Ware selbst. Marx hat den Begriff „Fetisch“ nicht erfunden. Er hat im berühmten Warenkapitel des Kapital mit seiner Hilfe bahnbrechend die auch psychologische Seite ihres Wesens beschrieben. Der Weinbrand, wenn eins einmal seinen Gebrauchswert schätzt, entwickelt aus sich oft schon optisch die zauberische Aura und die Wirkmacht einer Ware. Werbeagenturen bleibt da die Rolle einer gewissen Verstärkung.

Inzwischen fühle ich mich, was die Ware angeht, durch Marx gewitzt und gewappnet. Aber nicht gefeit. Es mag zur Dialektik der Aufklärung gehören, dass ich mir nicht einbilde, qua geistiger Durchdringung gegen die subtil gewaltsame Aura etwa eines Porsche oder den verlockend schönen Anblick des millionengrünen Parks einer Elbchausseevilla wirklich immun zu sein; warenförmige Materie wirkt im Original magisch. Die Macht der Werbung  hingegen scheint mir wie alles andere am Wertewesten derzeit irreversibel im Niedergang.  Ich fühle mich von ihr, mit seltenen Ausnahmen, nur noch abgestumpft, angewidert, gelangweilt.

Bis neulich. Da begegnete mir eine Kaffee-Reklame und ich wusste: Nach unten ist immer noch Luft. Was ist an einer farbigen Plastikkapsel neben einer halb mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllten Glastasse irgendwie verführerisch, was gelassen, was am Ende gar lebensfroh? Man stelle sich vor: Ein vielleicht gar nicht mal besonders anziehender, sagen wir: Bademeister trüge auf Rücken und Brust ein Tatoo mit der ernst gemeinten Aufschrift „Ich bin Erotik“.

Die Ware weiß nichts von human gehobener Seinsfülle, von den Wonnen gesellschaftlichen Wesens. Wirklich übel an derlei kaltem Kaffee ist eigentlich nur der Gedanke: Könnten die Werber mit ihrer offensichtlichen Annahme einer von ihnen bereits erfolgreich auf Warenformat herab gewirtschafteten Menschheit vielleicht doch nicht ganz daneben liegen?

Gemach. Seit den Bauernkriegen hatten erhebliche Teile der Unterklassen jahrhundertelang einfach nicht die Kraft, der mal terrorblutigen, mal – brutaldumpf oder jesuitisch raffiniert – ideologischen Geißel der zu ihrer Zeit Herrschenden zu widerstehen. Es gab gleichwohl selbst im deutschen Untertanenreich immer wieder begeisternd viele kluge, mutige, ausdauernde AnderI*nnen, die sich dagegen auflehnten. Nur wissen sie im Spätherbst 2019 infolge elitenseitig wohldurchdachten Medien- und Machtgebrauchs nicht mehr gar so viel voneinander. Was alles noch passieren kann, bis sich das wieder ändert, mag zur Zeit Furcht erregen. Wir wissen einstweilen: Wer Marx’  Gedanken so aufreizend dumm, so ästhetisch fade aufs eigene Nullformat herunter klamüstert, hat den Orkus, nein, den Abort der Geschichte verdient, der auf ihn wartet. Er ist Teil einer Kraft, die sichtlich nicht mehr viel im Köcher hat.  Junge Welt, Frühjahr 2020

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