Früher gab es Erdbeeren nur im Juni, Äpfel ab Herbst. Und wenn die Ohren auch mit den Osterglocken nichts anzufangen wissen – gehören doch Johann Sebastian Bachs Passionen für manche Leute seit alters zum Frühlingsfest wie Narzisse, Hühnerei und Hase. Genauer: Zur Karwoche. Denn es geht in ihnen noch nicht ums erfreulichere Wochenendgeschehen mit Grabesruhe am Samstag und Auferstehung „am dritten Tage“, dem Ostersonntag (gefolgt von Himmelfahrt und Ausgießung des Heiligen Geists an Pfingsten). Es geht um die finstere Vorgeschichte.
In jedem seiner Dienstjahre als Thomaskantor hatte Bach am Karfreitag in Leipzig eine Passionsmusik zu liefern. Thema: das Leidensgeschehen vor nunmehr – tja, über der Frage, wie viele Jahre „n. Chr.“ dieser Jesus von Nazareth gekreuzigt wurde, liegt bisheute dichter Nebel.
René Jacobs erinnert jetzt mit einer Neuaufnahme der Johannespassion daran, dass angesichts vierer verschiedener Fassungen, die alle auf Bach zurückgehen, von „der“ Johannespassion kaum die Rede sein kann.
Denn obwohl Bach mutmaßlich insgesamt fünf Passionen schuf, hat er die Johannespassion vom Entstehungsjahr 1724 bis zu seinem Tod 1750 viele Male aufgeführt und das Werk, im Bemühen, stets up to date zu sein, jedes Mal verändert.
Jacobs fügte in einem Appendix die fünf Nummern hinzu, mit denen Bach 1725 die Urfassung erstmals umgestaltete, um das Werk damit „johanneischer“ zu machen: Der christliche Heiland wandelt bei Johannes nicht als Mensch (wie bei Matthäus), sondern als Gott durch die Welt, die Tortur auf Golgatha erreicht ihn nicht wirklich.
Darum wohl stand 1725 der Choral „O Mensch, bewein dein Sündegroß“ als Exordium am Anfang. Die Neuaufnahme aber beginnt mit dem „Herr, unser Herrscher“ von 1724. Zum Glück. „Wenn je Bachsche Musik uns die philosophische Tugend des Staunens lehren kann“, so Bachforscher Alfred Dürr, „dann in Sätzen wie diesem“. Überall verstörende Bewegung, klingende Unruhe. Ein Sechzehntelmotiv kreist unaufhörlich durch Instrumente, Continuo und die Kehlen der Solisten und Ripienisten. Im Fundament dröhnt ein Orgelpunkt, schwere Quinten, zeitversetzt begleitet von einem chromatisch absinkenden Motiv, steigen nach unten, dazwischen dissonante Haltetöne der Holzbläser. Instrumente und Menschenstimmen korrespondieren, zusammengedacht im souveränen Bezug jeder Einzelheit aufs Ganze. Ein Stück Musik, in dem noch die Schrecken des dreißigjährigen Krieges nachzuwirken scheinen, der Schrecken allen Kriegsgemetzels bis heute. Durch die aus größter Menschenpein heraus geschriene dreimalige Anrufung des „Herrn“ gellt bereits die moderne Frage, wo denn in den von Geldgier und Herzenskälte – „in der größten Niedrigkeit“ – angerichteten Weltkatastrophen Gott abgeblieben sei?
Man hat den Eindruck, als versuche Jacobs, sich in der Neuaufnahme schon durch ein betont räumliches Klangbild von der diskografischen Konkurrenz abzusetzen. Deutlich im Vordergrund strahlen die Choräle in bester Textverständlichkeit. Die in der Johannespassion besonders zahlreichen Turba-Chöre treiben die Handlung voran; als „Kriegsknechte“ oder „die Jüden“ sind sie gleichsam Dramatis personae, die der RIAS Kammerchor zu bisweilen heftigstem Leben erweckt – der lutherische Antisemitismus in den Passionen wird deutlich. Ein Rätsel dagegen, warum die durchaus ansehnlich singenden Solisten – in einer meiner Lieblingsnummern, dem herrlich kontrapunktischen „Lasset uns den nicht zerteilen“ auch der Turba-Chor – akustisch oft hinter den farbenreich und dramatisch-aufgeladen begleitenden Instrumenten der Akademie für Alte Musik zurückbleiben.
Ein klares Plus ist Evangelist Werner Güra und das durch eine Theorbe ergänzte Continuo. Insbesondere sie sorgen improvisierend und mit theaterhafter Koloristik dafür, dass diese Aufnahme zu einem geradezu opernhaft eindringlichen Erlebnis wird. Junge Welt, März 2016
J. S. Bach: Johannespassion BWV 245 – Schachtner / Kohlhepp / Güra / Weisser / Akademie für Alte Musik Berlin / RIAS Kammerchor / René Jacobs (Harmonia Mundi France)