Abgesehen von einer durch eine persönliche Krise bedingt kürzeren Periode minderer Produktivität, verbrachte Ludwig van Beethoven vierundvierzig seiner siebenundfünfzig Lebensjahren damit, Musik von nahezu unbegrenzter Halbwertzeit hervorzubringen. Neben den Orchesterwerken, einer Oper, der Kammermusik – Schwerpunkt Streichquartett – vor allem Stoff für sein Instrument, er war ein erstaunlicher Klaviervirtuose.
32 Klaviersonaten stehen im Vordergrund, gefolgt von Variations-Zyklen wie dem vom Verleger Anton Diabelli veranlassten, unter ihnen nicht wenige Leuchttürme der Klavierliteratur. In ihrem langen Schatten, bis heute vom großen Publikum traurig wenig bemerkt, eine Vielzahl teils grandioser „Klavierstücke“. Zwei ganze CDs und vier verschiedene Flügel der Beethovenzeit benötigte der auf alte Klaviere spezialisierte Pianist Tobias Koch, um alle Rondos, Adagios, Präludien, Bagatellen und eine – die – einzige Fantasie Beethovens auf Tonträger zu bannen.
Der Knabe Beethoven lernte auf einem Cembalo. Die frühen Kompositionen erklingen auf dem noch recht cembalonahen Tangentflügel (das Alltagsinstrumente Mozarts) und auf einem Fortepiano von 1805. Koch spielt auf beiden die ersten zehn Tracks; darunter ein früher Fugenversuch. Alles noch ohne den später für Beethoven charakteristischen aggressiven Druck, den formenden Vorwärtsdrang.
Der dämmert und hämmert in der zweiten, auf einem Conrad Graf-Hammerflügel von 1827 präsentierten Abteilung. Das Rondo a Capriccio, bekannt unter dem Namen „Die Wut über den verlorenen Groschen“ – ein lustiger Schock. Denn mittels der bei damaligen Klavieren gebräuchlichen speziellen Pedale konnte man – und Koch tut das in diesem Stück mit hörbar großem Vergnügen – tuschartige Schlagzeug- und Beckengeräusche und somit „echte Stimmung“ erzeugen. Selbst den in der Klassik bislang als absolutes No Go verachteten Klamauk scheut Koch nicht, wenn er im ersten Abschnitt des Rondo a Capriccio die „Hereinspaziert!“-Atmosphäre und den Hau-auf-den-Putz-Lärm eines Jahrmarkts herauf ruft.
Ganz besonders schade ist es um das Schattendasein der Fantasie op. 77. Verstörend an ihrem Beginn ein zweiteilig unwirsches Arpeggio (wie ich es, harmonisch fein eingepasst, keineswegs unwirsch, am Anfang von Scarlattis Sonate K 2 wiederfand). Beethoven war schon als Jugendlicher berühmt für sein unerschöpfliches Improvisieren. Op. 77 erscheint wie ein Screenshot davon. Immer neu setzt das Stück an. Die Arpeggien wirken wie der nasse, immer neue Kreideversuche immer wieder wegwischende Schwamm auf einer Tafel. Die Wasserspur des Schwamms selbst wird zum Bildelement, auch die Arpeggien verändern sich. Erst nach der Hälfte des Stücks wird seine Grundtonart H-Dur und mit ihr sein fabelhaftes Variationen-Thema erreicht. Auch der pedalverzauberte Hammerflügel variiert seinen Klang mit jedem neuen Einfall – von transparent und luzide bis zu melancholisch umflort.
Am Beginn beethovenscher Meisterschaft der erste Bagatellen-Zyklus op. 33. Fantastisch wie Tobias Koch die gestochene Schärfe und zugleich köstliche Elastizität des Anschlags der Hammerklavierkopie eines Flügels aus der Werkstatt der guten Beethoven-Freundin Nanette Streicher von 1827 ausspielt; er trifft mit viel Sinn fürs Delikate den Eigenwillen des Sprachgebrauchs gleich der ersten Bagatelle. Die zweite, auf einem modernen Instrument gespielt, klänge langweilig wie eine Etüde. Auf dem alten Flügel aber lässt Koch mit beethovenschem Humor die sich rhythmisch
verschiebenden Leittöne im Bass knallen, im Minore-Teil löst sich die angestaute Energie, im zweiten Intermezzo spielt sie sich variativ frei. Die zweimal 16 Takte der zunächst verführerisch seicht wirkenden Terz- und Sextgänge der Nummer 2 der späten Bagatellen op. 119 bleiben in der einen Minute, die das Stück dauert, nur dem Anschein nach unverändert. In Wirklichkeit verschieben sich alle möglichen Parameter unmerklich andauernd. In den rhythmisch variierten 8 Takten Coda, vom alten Klavier obertonreich beflügelt, erklingt ein für den späten Beethoven typisch himmlisches Geklingel. In den in den letzten Monaten seines Lebens entstandenen Bagatellen op. 126 führt Beethoven die Kunst, eine im Alter alles durchdringende Kantabilität subversiv und auf engstem Raum mit raffiniertester Polyphonie zu verschmelzen auf die Spitze.
Beethovens Klavierstücke in ihrer Gesamtheit sind so nicht nur ein faszinierender Querschnitt durch sein Komponistenleben. Man hört sich mit dieser Produktion an großartigen Musikbeispielen entlang auch durch eine entscheidend wichtige Phase der Klavierbauentwicklung: industrielle Revolution in der Musik. Historisch gehöhtes Klangvergnügen am Beispiel der von einem begnadeten Tastensensoriker musizierten Klavierstücke Beethovens. Junge Welt, Juni 2018
Beethoven: Sämtliche Klavierstücke (3 CD) – Tobias Koch (Cavi/Harmonua Mundi)