Kopatschinskaja.Currentzis.Tschaikowsky.Violinkonzert.

Ich kannte einen klugen Menschen, der viel Geld damit verdiente, bedeutende oder doch wenigstens auf dem Kunstmarkt extrem renditeträchtige Kunstwerke in ihrem Potenzial schneller zu erkennen als andere. Das brachte ihm Geld. Und Kontakt zu Leuten mit noch mehr Geld. Seit ich ihn kenne, wurde mir klar, dass selbst etwas so Fragwürdiges und im Kapitalismus geradezu systemisch falsch Verstandenes wie der Reichtum seine Dialektik hat. Wirklich reiche Menschen haben selten viel Geld und umgekehrt. Mein schlauer Kunstfreund teilt seine superreichen Bekannten entsprechend ein in „dummes Geld“ und „kluges Geld“.

Der Gedanke ist brauchbar nicht nur für künftige revolutionäre Bündnispolitik. Die Geigerin Patricia Kopatschinskaja macht sich im Booklet ihrer neuen CD in einem Brief an den sie begleitenden Dirigenten Teodor Currentzis und sein Orchester MusicAeterna Gedanken über das auf der CD präsentierte Violinkonzert Tschaikowskys: „Meine Ohren hören darin keine Musik, die für unsere Zeit relevant wäre“, schreibt sie. „Unnötig durchgekaut von jedem, der nicht zu faul war, Geige zu üben, missbraucht für Übungen der Fingerfertigkeit, ausgespuckt in Wettbewerben. Dummes Geigertum, dachte ich“.

Kopatschinskaja ist klügstes Geigertum. Reich an allem, was wichtig wird, wenn perfekte Technik und luxurierender Klang kein Thema mehr sind wie der sprichwörtliche Reichtum, über den man nicht spricht, weil man ihn hat, beschreibt sie, poetisch wie eine Heldin Tolstois, in dem Brief ihre Annäherung an das Konzert: „Ich stehe im kalten Winter auf der Straße, atme auf das zugefrorene Fenster. Durch den schmalen Frostspalt sehe ich strahlende Kronleuchter, Ballroben, Uniformen, Farben, Glanz und Stolz“. Sie suche, sagt sie, in dieser Musik nicht das Neue, sondern die Seele des Komponisten in seiner längst zu Staub zerfallenen Welt. Und sie findet sie.

Wenn die Geiger bislang spielend singen konnten, sprechen oder schreien, dann kann Kopatschinskaja kreischen, quietschen, röcheln und wispern, hauchen, röhren und was ihr noch alles einfällt zu dem, was sie der Musik anempfindet.

Aus einem bis zum Zittern gespannten Pianissimo lässt sie das Hauptthema des ersten Satzes empor schnellen, bevor es in seinen Gesang findet, stellt mit fiebriger Zärtlichkeit das lyrische Seitenthema vor, das kaum eine Rolle spielt verglichen mit dem Hauptthema und seinen erstaunlichen Stimmungswandlungen, die am Ende der Exposition  orgiastisch explodieren. In der Durchführung streckt Kopatschinskaja dann den enormen Schwierigkeiten der Variationen aufs Hauptthema und der Kadenz die Zunge heraus und findet in aller Bravour – nichts für Puristen – immer wieder auch den lyrischen Atem für sehr persönliche Auslegungen des Notentextes; Musik, so dargeboten, lässt die kostbare Unverwechselbarkeit jedes Lebensmoments spüren.

Ein Wunder, wie Currentzis sein Orchester zurücknimmt, wenn Kopatschinskaja in der volkstümlich schlichten Canzonetta ihren Part nanofein über der Hörbarkeit hält, den Blick (der Ohren) freigebend auf eine an den von Tschaikowski bewunderten Mozart erinnernde, düsterzart konzertierende Holzbläserbegleitung.

Das erste Thema des dritten Satzes ist in der Geschwindigkeit kaum noch zu steigern, da nimmt Tschaikowski in schweren Bordunquinten  das Tempo heraus, geht im Seitenthema in einen wirbelnden russischen Volkstanz über und macht im dritten Thema eine Verschnaufpause, in der Kopatschinskaja und Currentzis die Musik kadenzartig und in bebender Flageolette-Innigkeit fast zum Erliegen bringen, bevor der Tanz in gefühlten Vierundsechzigsteln wild weitergeht und endet. Rasantes Tempo und Atem beraubende Rhythmik reißen auch in „Les Noces“ mit, das zweite Stück auf der CD. Von Heimweh spürt man nichts in diesem Blick Strawinskys zurück auf eine Bauernhochzeit seiner russischen Heimat. Ein Chor, vier Sänger, vier Klaviere und Schlagzeug. Die klare, kalte Luft der 1920er Jahre, Ballettmusik, der Tanz erinnert an Tschaikowskys dritten Satz. Fernöstliches klingt an, „russisch-orthodoxe Leiterbildungen“ (Wolf Loeckle). Wer es schafft, dergleichen Unvertrautes mehrmals zu hören, dem winkt – erstaunlich bei einer knapp hundert Jahre alten Komposition – das Erlebnis beglückender Frische und Kraft. Junge Welt, Januar 2019

Tschaikowski: Violinkonzert D op. 35 – Kopatschinskaja / MusicAeterna / Currentzis; Strawinsky: Les Noces – Koutcher / Buklaga et al. / MusicAeterna Chor / Currentzis (Sony Classical)

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