Litton.Mendelssohn.Sinfonien

Kaum ein Musiker hatte zu Lebzeiten so viel Erfolg, so reiche Entfaltungsmöglichkeiten wie Felix Mendelssohn. Wenigen ist es nach ihrem Ableben so übel ergangen. Vor allem Richard Wagners Wühlen gegen den Konkurrenten aus jüdischem Haus hatte Folgen. Denn der lebenslange Bakunin-Freund und Proudhon-Bewunderer Wagner drängte sich mit Ungeheuerlichkeiten nicht nur gegen Mendelssohn in seiner Schmähschrift „Das Judentum in der Musik“ den Hitler-Faschisten als Stichwortgeber geradezu auf. Mendelssohn wird bis heute von vielen als zwar elegant, damit aber auch weitgehend untief und mithin wenig landsmännisch missverstanden. Darin klingt allerdings ein Antisemitismus nach, der aus dem Nazireich über Adenauerdeutschland bis in die Merkel-Ära wirkt und seltsamerweise glänzend zusammengeht mit der nibelungenhaften Begeisterung des Westens für die israelische Regierungspolitik.

Am Namen Mendelssohn reibt sich in Deutschland schlechtes Gewissen. Denn wie verkommen muss sich ein Bürgertum fühlen, an dessen Anfängen jüdische Bankiersfamilien standen, die statt menschenfeindlicher Kasino-Zocker aufgeklärte Philosophen hervorbrachten wie Moses Mendelssohn und eben auch seinen Enkel Felix (das Bankhaus Mendelssohn & Co verschwand 1939 im geräumigen Arierbauch der Deutschen Bank)?

Historisch und musikhistorisch ist Mendelssohn ein Wesen zwischen den Stühlen. 1809 geboren, 1847 gestorben, hat er von den vielen Revolutionen seiner Zeit keine persönlich erlebt. Er wurde zum „schönen Zwischenfall deutscher Musik“ (Nietzsche), geprägt von Vormärz und Biedermeier, Klassik und Romantik in einer Zeit, in der nicht nur Mendelssohns einzigartige Frühform bürgerlicher Musik entstand, sondern auch das europäische Proletariat.

Ein wirklich einleuchtender Mendelssohn-Stil hat sich bis heute nicht eingestellt. Wer ihn vom Verdikt der Leicht(fert)igkeit befreien wollte, interpretierte ihn „bedeutsam“ wie Beethoven und darum falsch. Auf den Sinfonikern des 19. Jahrhunderts lastete bis Brahms, ja noch bis Mahler, der lange Schatten des jüngsten der Wiener Klassiker. In Mendelssohn – er war achtzehn, als Beethoven starb – hatte das Jahrhundert einen ersten und kongenialen Nachfolger, der sicheren Tritts auf Beethovens Spuren eigene Wege fand.

Die Art wie der US-amerikanische Dirigent Andrew Litton (mit Bergen Philharmonic) Mendelssohn liest, unterscheidet den komponierenden Hamburger Bankierssohn – qua locker und präzis geführtem Orchester bei gleichzeitigem Verzicht auf „Ausdruck“ – nicht nur deutlich von Beethoven. Litton geht auch jener So-ist-es-endlich-richtig-und-neu-Gestus ab, mit dem etwa ein Dirigent wie Nikolaus Harnoncourt seine Interpretationen allzu oft befrachtet hat.

Welch musikalischen Aufwand treibt Beethoven mit Begriffen wie Kampf und Sieg. Anders Mendelssohn. Anstelle von Gewissheit lässt er Hoffnung erklingen, anstelle von Triumph das helle Glück (vierte Sinfonie). Für Klassizismus ist diese Musik zu romantisch, für Romantik durchweg zu gesittet, das gefiel dem väterlichen Freund Goethe. Mendelssohn ist ein entheroisierter Beethoven, ein enterotisierter Mozart. In c-moll, einer Vorzugstonart der Wiener Klassik, drückt sich bei ihm nicht mehr Sturm und Drang aus. Sondern eine inhaltlich nicht weiter ausgewiesene, aber souverän gestaltete Vorstellung schäumenden Strudels, kultiviert, und trotzdem wild glitzernd (erste Sinfonie).

Überall im feinen Geflecht von Mendelssohns Orchester sprießen Melodien. Musik muss überhaupt nicht angenehm sein. Ist sie es aber, dann ist das – gegen Adorno – kein Verbrechen, es tut nur gut. Angenehm sind bei Mendelssohn zum Beispiel die dunklen Farben. Sie machen keine Angst, aber traute Magie und leise Traurigkeit, die sich nie verloren gibt (dritte Sinfonie).

Zwei seiner Sinfonien riechen nach romantischer Religiosität, Mendelssohn wurde mit sieben getauft. Der „Lobgesang“ (zweite Sinfonie) ist freilich eine Huldigungsmusik zum 400. Jahrestag der Buchdruck-Erfindung durch Gutenberg. „Alles was Odem hat“, der protestantische Choral mit dem schönen Text rahmt die Sinfonie, die eine Feier ist. Der alte Begriff, das freut an Mendelssohns Kunst, hatte mal einen Inhalt. Die Musik feiert sich selbst, sie feiert Tatkraft und Perspektive menschlichen Denkens und Empfindens. Mendelssohn hörend könnte man meinen, solch Optimismus habe sich noch lange nicht erledigt.   Junge Welt, November 2017

Mendelssohn: Sinfonien – Bergen Philharmonic / Andrew Litton (BIS/Klassik Center Kassel)

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