Interpretation, sagt Theodor W. Adorno über die – im Gegensatz zur „technischen“ (Aufzeichnung) – „originäre“ Reproduktion von Musik, sei die Kopie eines nicht vorhandenen Originals. Darüber wäre zu grübeln. Unter einem Original versteht man in der Musik üblicherweise die vom Urheber zu Papier gebrachte, in seinem Gehirn entstandene Komposition, das Autograph. Aus ihm haben Mit- und Nachwelt unterschiedlich verlässliche Vervielfältigungen hergestellt, von den auf die Notenpulte der Uraufführung gelegten Abschriften bis hin zu den am Ende gedruckten Werkausgaben. Aber was immer Adorno unter „Original“ verstanden wissen wollte: Mit dem Vorhandensein eines Autographen oder einer kritischen und damit halbwegs verlässlichen Edition einer Komposition weiß man noch nicht: Was hatte der Urheber an klanglicher Wirklichkeit im Sinn, bevor er aufschrieb, was er sich vorstellte, und welche Haltung sollte in der Musik zum Ausdruck kommen?Mozart brachte das solitäre Tryptichon seiner letzten Sinfonien 1788 in einem einzigen Sommer zu Papier. Es gibt Autographe davon, es gibt die wissenschaftlich-kritische Neue Mozart-Ausgabe der Salzburger Stiftung Mozarteum, es gibt eine Unzahl in vieler Hinsicht untadeliger Ton- und Datenträger mit den nach dem gleichen Notenmaterial eingespielten drei Meisterwerken. Und es gibt unter ihnen verwirrend viele, grundsätzlich differierende Auffassungen darüber, was Mozart uns da sagen wollte.
Zwei neue Interpretationen beschreiten den von der historischen Aufführungspraxis freigelegten Weg: zügige Tempi, ein bei aller Räumlichkeit schlackenlos transparenter Klang sowie eine bis in Einzelheiten – wie etwa die bei Mozart nie nebensächlichen Verzierungen und Vorschläge – klare, unsentimentale Diktion. Dass so etwas nicht nur auf alten Barockinstrumenten möglich ist (oder auch verfehlt werden kann), sondern auch auf modernen Instrumenten, demonstrieren sowohl Andrew Manze mit der NDR Radiophilharmonie Hannover wie auch Adám Fischer mit dem Orchester des dänischen Rundfunks. Beide bedienen sich einer, den ökonomischen wie baulichen Umständen der Mozartzeit entsprechenden Kammerorchesterstärke.
Zwei neue Interpretationen beschreiten den von der historischen Aufführungspraxis geöffneten Weg: Zügige Tempi, ein bei aller Räumlichkeit schlackenlos transparenter Klang sowie eine bis in Einzelheiten klare, unsentimentale Diktion. Dass so etwas nicht nur auf alten Barockinstrumenten möglich ist (oder auch verfehlt werden kann), sondern auch auf modernen Instrumenten, demonstrieren sowohl Andrew Manze mit der NDR Radiophilharmonie Hannover wie auch Adám Fischer mit dem Orchester des dänischen Rundfunks. Beide bedienen sich einer, den ökonomischen wie architektonischen Umständen der Mozartzeit entsprechenden Kammerorchesterstärke.
Manze und die Radiophilharmonie stehen von Beginn der g-moll Sinfonie K. 550 an quer zu Schumanns romantisch-absurder Einschätzung, dieses Werk sei von „griechisch-schwebender Grazie“. Auf dem sinfonisch-kontrapunktischen Höchstniveau (emanzipierte Holzbläser) des älteren Mozart spüren sie den Sturm- und Drangimpulsen nach, die schon Mozarts frühe g-moll Sinfonie K. 183 vorgab. Der im Verlauf vom ganzen Orchester voranstürmend intonierte 2-Achtel-1-Viertel-Rhythmus des Kopfsatzes erinnert in seiner Insistenz an Beethovens „Schicksalsmotiv“. In Manzes Interpretation höre ich statt einer von größeren Teilen der Fachwelt konstatierten und Mozarts Geldsorgen in diesen Jahren zugeschriebenen Klage und Schwere eine zugegeben extrem mollhaltige Alarmstimmung. Selbst das ausgesprochen schwermütig und persönlich beginnende Andante weitet sich im Verlauf ins Große. Mozart komponiert dualistisch. Nicht nur seine Themen leben, wie etwa der Finalsatz, von Kontrasten. Seine Perspektive ist bis ins Intime individuell, sie „objektiviert“ sich, weist über sich hinaus.
Diese Musik wurde ein Jahr vor der Französischen Revolution komponiert. Wie sehr der Epochenbruch schon vor dem Bastille-Sturm in der geistigen Luft Europas lag, wird in den, die Bonner Jugend des damals 18jährigen Beethoven beleuchtenden Dokumenten deutlich. In sie wurde, wie zuvor schon viel massiver in die Lebenszeugnisse Mozarts, von der Nachwelt retuschierend eingegriffen. Jemand, der 1787 mit dem „Figaro“ den politisch brisantesten Stoff seiner Zeit komponierte, soll sich mit definitiv keinem einzigen Wort zu den Ereignissen in Frankreich geäußert haben? Lächerlich.
Bei Fischer deutlicher als bei Manze weisen die drei Tutti-Schläge eingangs der „Jupitersinfonie“ federnd und kompakt auf die zwei Jetzt-rede-ich-Akkorde am Beginn der „Eroica“ voraus. Mozarts Finale, inkommensurabel in seiner Gleichzeitigkeit von Fuge und Sonatensatz, ist für mich die Antizipation des schlussendlichen C-Dur-Triumphs der Menschheitsmehrheit. Fischer wie Manze öffnen die Ohren dafür, dass Mozart in seinen letzten Sinfonien von der eher persönlichen Ansprache zum öffentlichen Ton übergeht. Beethoven hat ihn in drei seiner Sinfonien in revolutionären Furor verwandelt. Das hören andere anders. Eben. So verschieden kann man Musik denken, hören, interpretieren. Junge Welt, März 2019
Mozart: Sinfonien g-moll K. 550 und C-Dur K. 551 – NDR-Radiophilharmonie / Andrew Manze (Pentatone/Naxos); Sinfonie C-Dur K. 551 – DR Underholdnings Orkestret / Adám Fischer (Youtube); Fischer hat alle Mozart-Sinfonien mit dem dänischen Orchester beim Label allmusic eingespielt.