Minasi.Ensemble Resonanz. Haydn.Die sieben letzten Worte.

In der zweiten Hälfte der 1780er Jahre bekam Joseph Haydn einen seltsamen Auftrag. Nicht aus London, Paris oder Wien, den damaligen europäischen Musikzentren, sondern aus der südlichen Peripherie, aus Cádiz, dem Zentrum des transatlantischen Handels Spaniens mit seinen überseeischen Kolonien. Seltsam die Form des Werks, eine Folge von sieben Sonaten für großes Orchester, alle in langsamem Tempo. Seltsam die Herrichtung des Aufführungsorts, einer unter einer der Pfarrkirchen des Seehafens ausgehobenen religiösen Grotte. „Die Pfeiler, Wände, Fenster“, schrieb Haydn an seine Verleger, „waren nemlich mit schwarzem Tuche überzogen, und nur Eine, in der Mitte hängende Lampe erleuchtete das heilige Dunkel.“ Gegenstand des für den Karfreitag komponierten Werks: das Geschehen auf Golgatha. Das Hamburger Ensemble Resonanz widmet sich den „Sieben letzten Worten unseres Erlösers am Kreuze“ auf seiner dritten CD mit dem italienischen Dirigenten und Geiger Riccardo Minasi.

Der Bischof, erfährt man im sorgfältig edierten Booklet der neuen CD, trug die letzten Worte Jesu im Wechsel mit der Musik vor, er legte sie aus. Das tut auch Haydns Musik. Den Komponisten reizten die dem Auftrag innewohnenden Schwierigkeiten. Seine Sorge: er könne die Zuhörer mit einer Folge von sieben etwa zehnminütigen Adagios „ermüden“. Man stelle sich vor, ein großer Künstler macht sich schon am Beginn dessen, was heute „Klassik“ heißt und selbst seit langem  gehüllt ist in die säkularen Weihrauchnebel einer als „Kunstreligion“ (Ludwig Finscher) erstarrten Sphäre, Gedanken über deren außerhalb des Inner Circle bis auf den Tag ungelöstes Hauptproblem: die Langeweile. Ein im weitgehenden Unterschied zu den aristokratischen Privatbesitzern der Musik anspruchsvolles Bürgerpublikum wollte selbst beim Blockbuster christlicher Mythologie unterhalten sein.

Von den ersten, lang und vibratolos ausgehaltenen, durch elastisch „sprechende“ Fermaten von den kontrastierend punktierten Barocknoten abgehobenen  Akkorden der dramatisch schweren Einleitung an machen Minasi und das Ensemble klar: Haydn schickt die Langeweile bis neun auf die Bretter. Einmal mehr und – anlässlich dieser bislang zu wenig beachteten Komposition besonders gelungen – demonstriert das auf modernen, von Barockbläsern und alten Pauken begleiteten, Streichinstrumenten arbeitende Hamburger Elite-Ensemble: Die den Klassikbetrieb inzwischen  weitgehend prägende „historisch informierte Aufführungspraxis“ definiert sich durchaus nicht allein durch die Wahl der Instrumente. In bester „historischer“ Manier verlebendigt das Ensemble die starken Kontraste, den orchestralen Detailreichtum, die spannungsgeladene Dynamik – seltener auch Lyrik – einer von Haydn in die Sakralmusik eingebrachten Sinfonik. Minasis Disposition der Lautstärken, das sensible Abschattieren der Phrasen-Endungen, seine Kunst feinster Zäsuren und ein in letzter Zeit bei den jungen Ensembles immer erstaunlichere Wirkungen zeitigendes, je leiser, desto intensiver wirkendes Pianissimo, tun ein Übriges.

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Haydns einzigartig beweglicher Orchesterklang und -satz, polyphon wie homophon in farbig instrumental ständiger Veränderung, wird bis in Einzelheiten durchhör- und damit durchschaubar. Haydn war der von ihm verwendete Evangelien-Text so wichtig, dass er ihn unter die Noten drucken ließ. Aber mit „Programmmusik“, wie sie Berlioz und Liszt fünfzig Jahre später komponierten, haben die „Sieben Worte“ nichts gemein. Auch darin kommen die Hamburger Musiker dem Wiener Klassiker entgegen: Aus jedem von ihnen zum Sprechen oder Seufzen gebrachten Stimmungs- und Klangwechsel geht – von innen her komponiert – eine Haltung hervor: Das Innenleben eines zu Tode gemarterten, vom Vater geopferten Menschen, der, als pflichttreues Kind, seinen fleischfeindlichen Erzeuger bis zuletzt meint, auch noch glorifizieren zu müssen (Alice Miller).

Das in kaum einer der Schilderungen der Passion fehlende Erdbeben nach dem qualvollen Tod des sanften Heroen der Christenheit ist bei Haydn ein Unterhaltungshöhepunkt auf höchstem Niveau. Beethovens heroische Orchesterwucht scheint da nur darum nicht vorweggenommen, weil Haydns Wucht in all ihrer Durchschlagskraft stets voller Überraschungen und insoweit Haydns Wucht bleibt. Auch Mozart hat von diesem Werk bis in die späten Maurermusiken, in „Zauberflöte“, Klarinettenkonzert und Requiem hinein gezehrt. Großartige Musik, musiziert von einem in der Dialektik von technischer Perfektion und aus den Noten herausgelesener Haltung solitären Ensembles. Junge Welt, Juni 2019

Joseph Haydn: Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze – Ensemble Resonanz / Riccardo Minasi (Harmonia Mundi France)

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