Wenn Einer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert erfolgreich mit dem Nachweis beschäftigt war, dass sinfonische Musik nach Beethoven möglich war, dann war es Hector Berlioz (1803-1869). Aber so wie Mozart mehr geschrieben hat als die Rachearie aus der Zauberflöte, Beethoven mehr als den Anfang der 5. Sinfonie, Haydn vieles andere als den zweiten Satz des Kaiserquartett und Ravel erheblich Besseres als den „Bolero“, gibt es von Berlioz weiß Gott nicht nur die „Symphonie fantastique“.
Mit der in der Klassik üblichen Beschränkung auf ein bis zwei Highlights pro Meister hat Berlioz nun aber lange genug – eigentlich bis heute – dafür gebüßt, dass er es stets vorzog, seinen Weg abseits ausgetretener Pfade zu wandeln. Die freilich größere Sünde wider den statischen Korpsgeist des Kulturbürgertums: Berlioz komponierte kein einziges Werk, das auch nur Spuren eines Versprechens darauf enthielte, dass er, wenn er denn gewollt hätte, auch Warenförmiges herzustellen in der Lage gewesen wäre
Dass es, zum Beweis, nicht gleich Berlioz-Werke sein müssen wie die seltsam heilige Trilogie „L’Enfance du Christ“ oder sein Requiem, demonstriert jetzt mit einer bemerkenswerten Neuaufnahme der französische Dirigent Marc Minkowsky und das auf den Instrumenten der Entstehungszeit der Werke arbeitende Ensemble Les Musiciens du Louvre. Ein seltsamer Wechselbalg, die „Sinfonie mit Solobratsche ‚Harold en Italie’“ wurde da kombiniert mit den Orchesterliedern „Les Nuits d’Étè“ sowie einem Stück, welches all das, nämlich Bratsche, Mezzosopran und Orchester, in eins zusammenfasst: Die Episode „Le Roi du Thule“ aus Berlioz’ dramatischer Legende „La Damnation de Faust“.
Der Geiger Paganini, ein grenzenloser Bewunderer und finanzieller Förderer des Genies Berlioz, mag in seiner Eigenschaft als weltsensationeller Trapezkünstler der Geige enttäuscht gewesen sein über das, was ihm der Franzose, als Auftragskomposition, mit dem Opus 16 ablieferte. Besonders der Mangel an virtuos-solistischen Glanzpassagen könnte ihn geschmerzt haben. Aber Berlioz hatte von Anfang an eine „Bratschensinfonie“ im Kopf, eine Art sinfonischen Konzerts, in dem die Bratsche, wenn sie denn überhaupt nennenswert in Erscheinung tritt, über weite Phasen wie eine Streichergruppe ins Stimmgefüge des Orchesters integriert erscheint. Solistisch agiert sie entweder wie konzertierend aus dem Tutti heraus oder, wenn klar hervorgehoben, mit einer angenehm unvertraut klingenden Orchesterkulisse im Hintergrund. Ein Konzept, das einen Komponisten wie Johannes Brahms lebhaft interessiert haben dürfte: Denn in dessen Violinkonzert fühlt sich einige Jahre später der Solist ähnlich neuartig aufgehoben in symphonischem Ambiente. Auch den mit Berlioz befreundeten Robert Schumann beflügelte offenbar dessen Orchestrierung zu einer seinerseits noch nicht da gewesenen und bis heute ungewohnt wirkenden Instrumentation.
Wenn der in der Klassik zur Zeit angesagte Bratschist Antoine Tamestit im Mittelteil des zweiten Satzes den Pilgergesang des Ripieno mit palestrinös harmonisierten, figurierten Arpeggien sul ponticello (sehr nah am Steg) begleitet, klingt das flageolette-artig, kalt und unbekannt. Auch in den „Nuits d’Été“ fordert das Orchester, weit entfernt davon, nur zu begleiten, auf ganz untraditionellen Wegen noch heutige Ohren zu fremdelndem Hinhören heraus. Wobei die Sängerin in der Problemzone operiert. Denn ihre Stimme steht allein gegen fünfzig Instrumentalisten, denen Berlioz keineswegs durchgehend Zurückhaltung auferlegt. Nur kennt Anne-Sofie von Otter die Wirkkraft ihres Mezzosopran zu gut, als dass sie an irgendeiner Stelle klingen würde, als strenge es sie an, Kunst und Schönheit ihrer Stimme zur Geltung zu bringen.
Dass die EU musikalisch heute Beethovens Schlusschor aus der Neunten („Alle Menschen werden Brüder“) im Wappen führt, ist angesichts der EU-Wirklichkeit ein trauriger Witz, respektive ist es der gelenkige Einfall einer smarten Image-Agentur. Da entspricht die „Europäisierung“ eines offenen Hegemonieanspruchs, wie sie dem Berlioz-Antipoden Richard Wagner mit seinem Bayreuther Triumph gelang, dem Status Quo der EU schon eher. Die Musik des katholischen Agnostikers Berlioz dagegen erweist sich, je länger, desto klarer, als die authentischste und offenbar langlebigste Frucht der Kunst, Beethoven in einem demokratisch europäischen Geist zu beerben. Junge Welt, 2016
Berlioz: Harold en Italie op. 16, Les Nuits d’Été op. 7, La Damnation de Faust op. 24 –Tamestit / von Otter / Les musiciens du Louvre / Minkowski (naive/indigo klassik)