Pintscher.Bereshit.

Matthias Pintscher hat früh angefangen. „In jungen Jahren“, heißt es in leicht kryptelnder Altprosa bei Wikipedia, habe er Kompositionsunterricht bekommen. Es folgte ein Studienaufenthalt in London. 1988 der „eigentliche Studienbeginn“ bei Giselher Klebe in Detmold. Da war Pintscher siebzehn! Ich habe ihn in den 1990er Jahren zum Interview in der hässlichsten Stadt der Welt getroffen, in Kassel. Ein misstrauisch verschlossener Unsympath auf dem Sprung zur Berühmtheit. Er sah eher aus wie Nick Cave und nicht wie einer, der Musik komponiert, die aktuell zum Gefragtesten zählt, das weltweit in den Konzertsälen erklingt.

2016 hat Pintscher mit 45 den vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere erreicht. Pierre Boulez, Anfang des Jahres verstorbener Großkomponist der Gegenwart, bestimmte ihn zum Leiter des global neben dem Frankfurter Ensemble Modern führenden Neue-Musik-Klangkörpers Ensemble Intercontemporain. Kein Orchester der ersten Reihe, mit dem er als Dirigent (gern auch eigener Werke) noch nicht gearbeitet hätte.

Was geht in Pintschers Musik vor? Etwas vergeht. Die Zeit zum Beispiel, die Langeweile. Aber vielleicht geht die Zeit mehr vor, als dass sie vergeht. Gegen die Langeweile geht sie vor. Gegen das Vergehen. Pintscher komponiert Musik, die, beschreibt man sie, zu Sprachspielen verführt.

Musik zum immer wieder Hören schon darum, weil in ihr nichts geschieht, das vorherseh- hör – bar wäre. Dass der Anfang von „Bereshit“, Titelstück der neuen CD, aus der Unhörbarkeit kosmischer Stille aufsteigt als wäre die schon immer da gewesen, wird erst plausibel, wenn man weiß, dass „Bereshit“ der hebräische Name für Genesis ist. Pintscher stellt sich komponierend großen Vorgängern (Haydn, Wagner). Aus leer dröhnender Ewigkeit wird tönender Urgrund. Beeindruckend, wie da aus Klängen und Zusammenklängen, Linien, Schlägen, Geräuschen die poetische Illusion unendlichen Raums entsteht. In ihm zentral, liest man im Booklet, die kleine Sekunde d-es. Akkorde stoßen auf krachende Einbrüche, vielfältige Folgeerscheinungen mäandern Richtung Verklingen und finden zum Leitton zurück, an den wie ein Ceterum Censeo die Harfe erinnert, die gestopfte Trompete, die Geige. Er wird klanglich, dynamisch variiert, echohaft, alles spinnt sich, rollt und rumpelt und lärmt sich fort und fort. Dann, erst in höchsten Lagen, konzertiert die Geige, kadenzartig, findet tiefere Bereiche. Am anderen Ende des Registers der solistische Kontrabass. Melodieartiges nun auch im Orchester. Das Stück flirrt, strudelt, gleißt und zupft sich am Ende mit Weile zyklisch ins klingende Schweigen zurück. Matthias Pintscher hat den Kosmos in „Bereshit“ verzaubert in Klang.

In „Uriel“ und im abschließenden „Songs from Solomons Garden“ noch einmal die Wichtigkeit des Räumlichen bei Pintscher, das Vermeiden von Stufung zugunsten von Fluss, überall Glissandi und Chromatik. Der Einsatz jäher, extremer Kontraste in Dynamik und Tonhöhe sorgt für bisweilen dramatische Hochgespanntheit, glühende Melodiefetzen, miniaturhafte Reflexe, Flageolett-Schatten. Das alles funktioniert auch mit der Menschenstimme oder mit nur zwei Instrumenten. Die Klangpoesie und inszenierte Energie der Musik Pintschers ist dem aus lauter Solisten bestehenden Ensemble Contemporain wie auf den Leib komponiert. Eine großartig abwechslungsreiche CD.  Junge Welt, Oktober 2016

Matthias Pintscher: „Bereshit“, Uriel, Songs from Solomon’s garden – Ensemble Intercontemporain / Pintscher (alpha classics/note 1)

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