Harold en Italie“ ist eine seltsame Sorte Bratschenkonzert oder sollte man sagen: Sinfonie mit raffiniert in die Orchesterdramaturgie eingebauter, intim konzertierender und zugleich die Konzertform sinfonisierender Bratsche? Die Enttäuschung des Auftraggebers Paganini ist diesem Wechselbalg in Gestalt eines neuen Genre anzuhören: Keine Bravourpassagen, keine Drahtseilakte, nicht einmal ein Salto mortale. Aber wie wenig Platz auch immer der Komponist Hector Berlioz der Bratschen-Stimme einräumt, was er ihr einräumt, hat es in sich. Es wird hörbar in den, verglichen mit der Konzertkonfektion, wenigen „echten“ Solistentakten der Bratsche, der großen, ruhigen Melodie, die sich durch das ganze Stück zieht. Tabea Zimmermann vergegenwärtigt die Essenz dieser Melodie, die Klarheit und Reinheit dessen, was unverletzt, ganz innen in vielen von uns lebt.
Kommt hinzu ein Kapellmeister wie Francois-Xavier Roth mit seinem auf zeitgenössischen Instrumenten vom ersten Drittel des 19. Jahrhunderts arbeitenden Ensemble Les Siècle. Berlioz vermochte nicht nur seine Ideen glänzend avantgardistisch zu instrumentieren. Roth gelingt es per Dynamikbalance zwischen den Orchestergruppen auch, Berlioz’ Konzept einer zu Räumlichkeit und Transparenz führenden Differenzierung der Innenteile eines Klangkörpers zu verwirklichen. Im von Tabea Zimmermann in Philosophie verwandelten Hirtengesang im ersten Satz, der Melodie, steigert Roth die dynamischen Kontraste zwischen leise und laut, es entsteht die Vorstellung von fern und nah. Von der Orchesterräumlichkeit weitet sich der Höreindruck zur Welträumlichkeit. Begleitet nur von den bei Berlioz ein für allemal emanzipierten Harfen und wenigen Holzbläsern, lässt Zimmermann per Bratsche in der Melodie des Harold alles hinter sich – die Sinfonie, das Orchester, am Ende die schlechte Welt als solche. In sanfter Gelassenheit breitet sich das Versprechen vom möglichen guten Leben für alle aus.
Der Höhepunkt im zweiten Satz, wenn die Bratsche vor dem sich ins piano zurückziehenden Orchester den Bogen unablässig auf und ab über Saiten gleiten lässt, die von den Fingern nur eben berührt werden (Flageolette). Aus der großartigen Idee eines genialen Komponisten, so etwas zum solistischen Höhepunkt eines Satzes zu machen, macht Tabea Zimmermanns eine Klangwunderwelt.
Im dritten Satz führen Berlioz/Roth in faszinierend instrumentierter Bewegung vor, wie unverkrampft sich Berlioz hier aus der Dominanz des gewohnheitsmäßig als „heroisch“ bezeichneten beethovenschen Taktes befreit. Der löst sich auf in die pure Lebensfreude eines universellen Schäferreigens. Das alles verdankt sich wiederum der Aura jener das ganze Werk durchziehenden Melodie – einer Aura einverstandener Entspannung nach getaner, sinnvoller Tätigkeit, die Sehnsucht aller arbeitenden Menschen.
Im letzten Satz entfaltet sich, was Berlioz kaum fünf Jahre nach Beethovens Tod aus der das 19. Jahrhundert musikalisch prägenden beethovenschen Sinfonie gemacht hat. Komplett gelöst aus dem Schatten des deutschen Olympiers, geht da der funkensprühende Stern einer, sagen wir, französischen Sinfonik auf. Sie schafft es, sogar den Militärmarsch zu reintegrieren in das, woher er kam, in die strikte, unaufhaltsame Lebensfreude der Menschheitsmehrheit. Die Bratsche chargiert anfangs wieder, sie beginnt stammelnd mit der Demontage ihrer Traummelodie, die schließlich im Orchestertaumel unwiderlegbaren sinfonischen Schwungs untergeht. Am Ende richtet sich, was von der Melodie übrig ist, im reinen Klang der Bratsche Tabea Zimmermanns noch einmal auf. Die Charge wird zur Heroine. Ein kläglichkurzer herrlicher Abgesang. Die Welt utopischen Friedens hat vorerst abgedankt, platt gemacht von der Kraft blindwütig unaufhaltsamen Bürgerlebens. Eine faszinierend neue Art von Sinfonik. Aber eigentlich auch ein bisschen schade um die schöne Melodie. Nun ja, so will es bisweilen große Kunst. Junge Welt, August 2019
Berlioz: Harold en Italie, Les nuits d’été – Les siècle / Roth (Harmonia Mundi France)