Keine zwei Jahre müssen wir noch schlafen, dann ist wieder Beethoven-Jahr. 2020 jährt sich der Geburtstag der Leitkulturfigur zum 250. Mal. Vielleicht noch nichts damit zu tun hat die neue CD des Cellisten Francois Salque und des Pianisten Eric La Sage. Sie haben Beethovens Cellosonaten wohl eher aus Dankbarkeit neu aufgenommen. Denn mit ihnen hat der Komponist dem seit Barockzeiten wie auf die Galeere ins Generalbassfundament der Musik verbannten Cello eine neue Identität verschafft. Er hat das Instrument in den fünf über sein Leben verteilten Cellosonaten aus der Rolle des Begleiters wie aus der des zu begleitenden Solisten (Vivaldi, Haydn) befreit. Hat das Cello zum gleichberechtigten Gegenüber des Klaviers gemacht und ein für alle mal die tonale Spannweite des Cello in Verbindung mit den nur ihm eigenen variablen Farben ins rechte Licht gerückt.
Die ersten beiden Sonaten op. 5 sind Sonderanfertigungen für Beethovens Besuch 1796 am preußischen Hof in Berlin. Dort wirkten die berühmten Cellisten-Gebrüder Duport. Er hat die Stücke mit einem der beiden vor Friedrich Wilhelm III. aufgeführt und sie dem selbst auf dem Cello dilettierenden König, für den auch Boccherini und Haydn arbeiteten, später gewidmet. Der Revolutionär Beethoven als Hoflieferant? Da schluckt manch linker Musikfreund. Aber Beethoven musste sich mit dem »Kaiserthum Oesterreich« arrangieren. Nicht mal theoretisch hätte er nach Kuba gehen können oder in die VR China, die sich heute für ihn mindestens so begeistert wie für den Ex-Dortmunder Goalgetter Pierre Emerick Aubameyang. Der damalige Feudaladel war antikapitalistisch, wenn auch aus ganz anderen Gründen als wir heute, nämlich Misstrauen gegenüber dem Bürgertum. Für den Untertanen Beethoven wäre Dissidenz böse ausgegangen, und er musste liefern, um im Geschäft zu bleiben, also tanzte er radikal aus der Reihe eben als Komponist. Schon die zweisätzigen Sonaten des frühen Opus 5 verlagern eine Getragenheit, wie sie im zweiten Satz üblich war, in langsame Einleitungen des ersten, auch ungewöhnliche Bruchstücke thematischer Arbeit finden sich dort.
In Opus 69 und mehr noch in den zwei späten Sonaten op. 102 verschwimmen die Formgrenzen des wienerklassischen Komponierens, die Satzfolge verschiebt sich, entwickelt sich zusehends in Richtung romantischer Fantasie. Insbesondere befreit er – eine wunderbare Tendenz des späten Beethoven – das Sangliche aus dem tradierten Adagio-Reservat, es durchdringt hier mit Ausnahme des Scherzo immer freier und entspannter alle Sätze.
Salque und Le Sage präsentieren einen Live-Mitschnitt: Frische des Zugriffs, Angriffslust, scharfe Konturen und viel Energie heißt das in dieser Neuaufnahme. In wunderbar freiem Gebrauch historischer Informiertheit (stimmiges Mehr an Vibrato, unverfrorenes Portamento, echtes Cantabile) machen da zwei Solisten auf modernen Instrumenten das Schwierigste: Sie »singen« einfach, was Beethoven ihnen aufgeschrieben hat. In keinem seiner Lieder, nirgends in seiner Oper »Fidelio« begegnet man so diesseitigen Melodien, so fast belcantohaftem Schmelz wie in den späten Cellosonaten. Selbst die Fuge in op. 102/2, schwierig und neu – ein Lustspiel, alles heiter und gelöst, ja, mehrmals sogar derbe komisch, das Lied eines im Moment der Komposition glücklichen Menschen.
Von den älteren Aufnahmen kenne ich neben der mit Jean-Guihen Queyras und Alexander Melnikow nur eine, die da mithalten kann: Anner Bijlsmas Einspielung vom Anfang der 1990er Jahre. Auf einem Barockcello, zusammen mit dem Hammerflügelspieler Jos van Immerseel, verwendet der niederländische Urvater historisch informierten Cellospiels nur noch einen Hauch von Vibrato. Bijlsma demonstriert nichts, er musiziert. Gelassen, unaufdringlich hingegeben. Man vermisst im Vergleich zu Salque und Le Sage vielleicht die Atmosphäre der Live-Aufnahme, die Franzosen wirken jugendlicher. Bijlsma dagegen abgeklärt, aber nicht im Sinn von »drüber hinweg«, er erzählt von derselben Begeisterung, sein Spiel enthält dieselbe
Kraft und melancholische Lebensfreude. Nur tritt er als Interpret hinter den Text zurück, ohne dessen Seele zu verfehlen. Es entsteht Raum für so etwas wie eine Ahnung jener Zeit, in der das geschrieben wurde. Zwei verschiedene Ansichten derselben Werke. Beides gültig, beides ein Fest für Ohren und Herz. Junge Welt, Juli 2017
Beethoven: Cellosonaten op. 5, op. 69 und op. 102 – Salque/Le Sage (Sony Classical); Beethoven: Cellosonaten op. 5, op. 69 und op. 102, Variationen über „Ein Mädchen oder Weibchen“ op. 66 – Bijlsma/Van Immerseel (Harmonia Mundi France).
PS. Anner Bijlsma, auf seine Aufnahme mit Immerseel angesprochen, wies mich augenblicklich auf eine ältere Einspielung mit Malcolm Bilson hin. “Die hat mir mehr Freude gemacht”. Sie ist nirgends zu finden. Auf Youtube kann man davon immerhin noch op. 5 hören. Sie klingt tatsächlich nach mehr Freude.