Okay, er hat keine Matthäus-Passion geschrieben, keine h-moll-Messe, kein Weihnachtsoratorium, aber was heißt das schon? Stellt sich eins den Kosmos großer Komponisten räumlich-hierarchisch vor, wäre unterhalb Johann Sebastian Bachs, ohne damit seine Ausnahmestellung zu gefährden, viel Platz. Zum Beispiel eben für Georg Philipp Telemann. Auch dessen Arbeiten für solistische Violine sind auf ihre Art formidabel. Es ist nur eben nichts vom Rang der Chaconne in d-molldabei. Telemanns Musik zu hören, macht gleichwohl eine Sorte Vergnügen, wie man es bei Bach lange suchen muss.
Der Barockgeiger Gottfried von der Goltz, ein Meister auch mitBachs Chaconne, lässt sich Telemanns Großbegabung fürs Abwechslungsreiche, elaboriert Lebensfrohe, für den gekonntenUmgang mit dem musikalischen Geschehen auch jenseits der südlichen und westlichen Grenzenund seine Offenheit für in seiner Zeit Neues und Neuestes nicht entgehen. Goltz hat sich aus demrein quantitativ weltrekordverdächtigen Oeuvre Telemanns die „Frankfurter Sonaten“ für Violine, Cembalo und B. c. herausgesucht.
Der 1681 geborene Telemann, gut befreundet mit seinenGenerationsgenossen Händel und Bach – als Patenkind Telemanns trug Bachs Ältester Telemanns Vornamen –, arbeitete ab 1712 als Städtischer Musikdirektor im reichsfreien Frankfurt am Main. Er ging dann 1721 für den langen Rest seines Lebens nach Hamburg, wo er 86jährig hochgeehrt starb und auf dem Gelände des untergegangenen Johannesklostersirgendwo unterm heutigen Rathausmarkt begraben liegt.
Alle drei Großen des reifenBarock emanzipierten sich nach beruflichen Erfahrungen an Adelshöfen ihrer mitteldeutschen Heimat aus der stupiden Sicherheit unmittelbarer Knechtschaft. MitLondon, Leipzig und Hamburg wählten sie die sozial begrenzte Freiheit dreier Metropolen. In ihrer Musik, meist noch einem Mitglied der Aristokratie gewidmet, begannen sie musikalisch an der Widerspiegelung des bürgerlichenIch zu arbeiten. Man spürt der abwechslungsreichen, farbigen, rhythmisch wie melodisch verschwenderischen Musik Telemanns noch heute an, wie erfolgreich sie ihre nach Identität hungernde Klasse bediente.
Der Freiburger Konzertmeister ist mit Telemann nicht allein. Cembalo und Theorbe an seiner Seite sorgen für harmonischeund rhythmische Umgebung;Orgelpositiv und Cello sind für den Bass zuständig.
Goltz spielt auf einerBarockgeige, die zwar wie fast alle professionell genutzten Instrumente des 18. Jahrhunderts während der Entstehung eines Musikmarkts nach der französischen Revolution umgebaut wurde, damit sie sich in den umsatzbedingt immer größer werdenden Konzerthallen akustisch durchsetzen konnte. Sein Exemplar ist allerdings zurückgebaut, dennGoltz favorisiert die historischeAufführungspraxis. Der Klang seiner Geige kratzt obertonreich,sie hat mehr Farben drauf als moderne Instrumente, er spielt nonlegato. Vor allem verzichtet er auf ein von romantischemGeltungsbedürfnis und Wirkungswahn getriebenes Dauervibrato. So geht in dieser Aufnahme eine neuartig alte Welt auf – wert, wiederentdeckt zu werden. Junge Welt, Juni 2020
Telemann: Frankfurter Sonaten – Gottfried von der Goltz, Barockgeige (Aparté/Note1)