CHARLY HÜBNER&ROCKO SCHAMONI HÖREN MAHLER.

Am vergangenen Dienstag endete im vollbesetzten großen Saal der Hamburger Laeiszhalle die zweijährige Residenz des Komponisten und Dirigenten Emilio Pomarico beim Ensemble Resonanz.  Auf dem Programm etwas Besonderes: Gustav Mahlers im Zeichen des Abschieds stehende, monumental progressive neunte Sinfonie, vom Freiburger Komponisten und Pianisten Klaus Simon eingerichtet für Kammerensemble.

Auf ihre Art vorbereitet hatten das Ganze eine Woche zuvor auf der Bühne des ensembleeigenen »Resonanzraums« im Feldstraßenbunker  Charly Hübner und Rocko Schamoni. Hübner, von seinen Eltern für’s Leben schwerpunktmäßig mit Schlagern ausgerüstet, wechselte früh zu Metal und kam dann zur eigenen Verblüffung irgendwann eher zufällig darauf, dass die Musik Gustav Mahlers »im Prinzip und von der Intensität her für mich« dem entsprach, was die Black-Metal-Bands so von sich geben. Mahlers »krasse Trompeten und Posaunen« ersetzten ihm die E-Gitarren vollauf. Er war zunächst speziell von der 5. Sinfonie begeistert. Das Publikum stellte erstaunt fest, dass mit Hübner ein inzwischen mit den Lebens- und Sterbeumständen, den Briefen und der Musik Mahlers bestens Vertrauter auf der Bühne saß. Anhand einiger Einspielungen seines bevorzugten Mahler-Dirigenten Klaus Tennstedt stellten die beiden Künstler, die sich als Schauspieler in der Inszenierung von »Der goldene Handschuh« am Hamburger Schauspielhaus näher gekommen waren, erstaunliche Gemeinsamkeiten in Wirkung und Deutung dieser Musik fest. Hübner gab Briefe Mahlers zum besten und las, sichtlich beeindruckt von dessen Sprachmacht, aus Theodor W. Adornos Mahler-Monographie. Schamoni hatte eine von ihm geschätzte, Mahlers Sinfonie aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen an die Seite gestellte, Aufnahme Arvo Pärts dabei. Auch er gut im Bild. Nicht nur Mahlers Liebesschmerzen, verursacht durch die umtriebige Gattin, waren ihm geläufig, auch die Hämhorroiden des Meisters, an denen Mahler in der Tat fast verblutet wäre. Der dritte Satz, gestand er, hätte ihn schlicht umgehauen. Bis zu dreißig Mal müsse er so etwas hören, um es zu begreifen. Popmusik beschränke sich gottseidank nur auf ein Thema, Mahler dagegen balge sich mit fünfzig zu gleicher Zeit herum – »auf Highspeed«.

Keine Ahnung, ob der am Dienstagabend anwesende Charly Hübner das Werk auch in der für Mahlers Sinfonien ungewöhnlichen Minibesetzung goutierte. Das Ohr hatte sich zunächst an die Klangverhältnisse zu gewöhnen, namentlich an die Dominanz des ersten Horns. Dem ersten Satz fehlte – bei einem derart sparsamen Aufwand kein Wunder – denn auch die Räumlichkeit. Diesen Mangel machte das Ensemble durch dynamische Vielfalt wett – nah und fern, laut und leise, verkleidet als Gegenwart und Vergangenheit, Moment und Erinnerung, Verwirrung und Kontemplation sind zentrale Kategorien dieser Sinfonie.

So treten in der Kammer-Version in den collageartig immer wieder durch die kontrapunktischen Orchestergewitter wehenden Fetzen von Melodien, Idyllen und Paraphrasen des Banalen wie unter einer Lupe fast alle Instrumente auch solistisch hervor. Ein sozusagen gefundenes Fressen fürs Ensemble Resonanz, es besteht aus lauter Solisten.

Das den ersten Satz prägende absteigende Sekundintervall dient als Ausgangspunkt aller möglichen Melodieversuche. »Leb wol’« schrieb der Komponist ins Manuskript, was seine Neunte für die Exegeten (Charly Hübner inklusive) ein für allemal in den Zusammenhang von Abschied und Tod rückte. Aber Alban Berg, der die Neunte zusammen mit der Schönberg-Schule als erstes Werk der »neuen Musik« begrüßte, hatte Recht: Aus dem ersten und letzten Satz spricht pure – am Anfang frenetische, am Ende vom einverstandenen Loslassen beseelte – Daseinsfreude. Nur quillt aus dem Überschaum der Lebenslust bei Mahler unvermeidlich das Gift der Angst vorm Lebens- und Weltende. Eine Angst, von der man 1909/10 im Sinn der in Thomas Manns »Zauberberg« beschriebenen Stimmung hilflosen Auf-den-Krieg-Zutreibens annehmen darf, dass sie auch bei Mahler ahnungsvoll übers Individuelle hinaus ging.

So ist süß – und immer bedroht – in dieser Musik nur die Erinnerung, von Dissonanzen unterminiert, in Parodien verspottet. Die beiden Binnensätze kontrastieren in greller Polyphonie, bizarrem Kontrapunkt. Die herzige Folklore der Ländler und des Walzers klingen schnell nach Herzschrittmacher; ins Tümelnde des heimatlich heilen Dreiertakts mischt sich Industrielärm – Musik, um die AfD zu vertreiben. In der Rondo-Burleske des dritten Satzes meint man ständig, Fugato zu hören, ohne dessen jemals sicher zu sein. Überall Variationen, wie Zellteilung, filigran blitzartige Verarbeitung jagender Bruchteile. In Passagen der Burleske spielt fast jede und jeder etwas anderes. Pomarico und das Ensemble waren gleichwohl auf die Nanosekunde zusammen.

Im letzten Satz, dem vielleicht schönsten aller Mahler-Adagios, verweigerte der scheidende Dirigent Pomarico den sonst so beliebten Ennio-Morricone-Moment. Für die Szene in »Spiel mir das Lied vom Tod«, in der Jill (Claudia Cardinale) am Bahnhof eintrifft und die Musik sich mit der nach oben übers weite Land fahrenden Kamera öffnet, wurde Mahler auf für Sergio Leone wunderbare Weise beklaut. Am Dienstag in der Laeiszhalle spürten die Leute: Musik ist kein Gefühls-Teaser für ein in Ermanglung des richtigen Lebens nach großem Kino dürstendes Publikum. Sie ist tönende, von jeder und jedem anders erlebte Form. Erst ganz am Ende im gefühlt ein siebenfaches Pianissimo erreichenden Verklingen berührte sie das pulsierende Herz. Wir waren wie benommen. Der Beifall brauchte lange, dann brandete er.    Junge Welt, Juni 2018

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