Fischer.Adam.Mahler.Alle.

Große Schlachtenlenker und überragende Dirigenten haben eines gemeinsam: sie können mit Reserven umgehen. Dass der ungarische, in Hamburg und in der großen weiten Klassikwelt lebende Dirigent Adam Fischer dazu gehört, belegen die bislang erschienenen CDs seiner Gesamtaufnahme der Sinfonien Gustav Mahlers mit den Düsseldorfer Symphonikern.

Reserven bekommt, wer das Ganze im Auge behält – im Hinblick auf sein Instrument, in diesem Fall das Orchester, und mehr noch hinsichtlich der zeitlichen Proportionen des Werks. Reserven entstehen in langen Passagen wirklichen Pianissimos; auch wer sich dem allzu frühen Angezogensein vom Sog eines plötzlich wieder eintretenden Hauptthemas versagt, schafft Reserven und Raum für Steigerungen.

Unaufgeregt steht Adam Fischer auf der Kommandobrücke, einer, der warten kann. Er liebt es nicht, musikalisch mit der Tür ins Haus zu fallen, er klopft nach Möglichkeit an, bereitet Höhepunkte vor. Das Drinnensein stellt sich oft ohnehin als umso schöner dar, je länger man draußen hat warten müssen. Drinnen, das meint die offenbar immer noch steigerbaren Höhepunkte der Orchesterstürme und Zusammenbrüche Mahlers, sie werden mit jeder Sinfonie katastrophischer und monumentaler. Und drinnen, das sind auch Mahlers dem durch Musik gezündeten Gefühl gewidmete Bezirke, seine unvergleichlichen langsamen Sätze. Und es ist die dünne Luft in den ätherischen Bezirken seiner, alles Gewesene transzendierenden Ausblicke. Mit viel Zurückhaltung beim Vibrato, wenig Bogendruck, erreichen die Streicher bei Fischer in solchen Momenten die durchsichtige Fahlheit eines Traums bei Kafka, der zwanzig Jahre jünger war als Mahler. Selbst Mahlers in Viscontis „Tod von Venedig“ zuschanden karamellisiertes Adagietto verströmt auf diesem Weg wieder das Geheimnis federleichter Selbstverständlichkeit.

Adam Fischer macht nie mehr aus etwas, als was es ist, es wird damit oft alles. So gerät der für Mahlers Verhältnisse ungebrochene Naturlaut des Kopfsatzes der ersten Sinfonie nicht zur sinfonischen Postkarte aus einer so nie vorhandenen Heimat. Distanziert wie schnell geschnittene Filmpassagen fliegen im zweiten Satz Mahlers mal liebevolle, mal ätzende Karikaturen authentischer und warenförmiger Volksmusik vorbei, unter ihnen im dritten Satz Motive der Sinti aus Fischers Heimat, ein elegant geschnittener Bilderbogen der Welt der Unterhaltung im Fin de Siècle.

Auf meine Interview-Frage im Klassikonlinemagazin VAN (https://van.atavist.com/adam-fischer) nach der selbst in den sich überstürzenden Panikpassagen Mahlers durchgehenden Transparenz der Düsseldorfer Symphoniker, sagte Fischer, es sei ihm wichtig, Mahler in der Tradition der Wiener Klassik zu zeigen: „Ich suche immer den Schubert in Mahler“. Der Wagner, der da auch gelegentlich anklingt, interessiert ihn in diesem Zusammenhang offenbar weniger, der Johann Straus schon eher. Wiener Klassik? Alles ist von ihr vorhanden in Mahlers Sinfonien. Es fehlt nur der alte, in erster Linie tonale Zusammenhang, die traditionelle Folgerichtigkeit. Uneklektisch komponiert Mahler die Trümmer. Er verfremdet, überdreht und spitzt zu, was sich im 19. Jahrhunderts infolge Haydns, Mozarts und Beethovens an neuer Ordnung herausgebildet hat. Die am Ende nur mehr virtuelle alte Ordnung geht im Doppelsinn in Mahlers Musik auf: Sie löst sich auf in ihr und öffnet sich zugleich, sich erneuernd, wie eine Tür in die Zukunft.

Schubert findet sich noch in besagtem Adagietto, seine Melodik, fast unkenntlich in den wie endlosen, auseinander hervor gehenden Legatobögen der Streicher, Schuberts Atmosphäre entsteht in den fernen Hörnern, den Harfen. Da tönt in verändertem Licht die träumerisch haltlose Idylle schubertscher Trostlieder, von fern auch das pochende Herz der Trostlosigkeit der Winterreise.

Wer das Warten zu schätzen weiß und sich Höhepunkte zur rechten Zeit am rechten Ort wünscht, wird mit Adam Fischers Mahler glücklich sein. Dirigenten, die dem Publikum misstrauen, setzen aufs Demonstrative. Fischer verschmäht es. Es ist der Tod jeder Erotik. Jenseits der Warenwelt ist Erotik das sehr besondere und besonders schöne und menschliche, das von außen unsichtbare Auf-der-Stelle-Treten des Glücks, einen Wimpernschlag vor dem Ziel.       Junge Welt, Februar 2019

Gustav Mahler: Alle Sinfonien, bisher erschienen: Nr. 1, 3, 4, 5, 7 – Düsseldorfer Symphoniker, div. Sänger/Adam Fischer (Challenge Records/CAvi)

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