Lubimov.Carl Philipp Emanuel Bach (2018)

Der russische Klavierspieler und Cembalist Alexei Lubimov erkundet seit längerem die Geschichte bürgerlichen Lebens- und Weltgefühls in der Musik. Auf seiner dem ältesten Bachsohn Carl Philipp Emanuel (CPE) gewidmten CD „Tangere“ tut er das ausdrücklich auf den Instrumenten, derer sich der Komponist bediente. CPE (1714-1788) hat, Scarlatti einmal beiseite, den Grund gelegt für das, was in Beethovens 22 Werken der Gattung als „die“ Klaviersonate bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wirkte. Mozart – auf andere Weise auch Haydn – tat, tänzerisch sicher, erste Schritte durch die von CPE geöffnete Barocktür. Mit Beethoven kommt – vom Denken in die Musik transformiert – eine Idee von der Welt ins Spiel. Der Sonatenhauptsatz als formaler Gipfel dieser Musikepoche erreicht mit Beethoven zugleich Vollendung und erste Auflösung, die Moderne beginnt.

„Tangere“ heißt berühren, ein kluger CD-Titel. In den „Affekten“ der Barockmusik bleiben die Gefühle als ein lediglich Abgebildetes auf Distanz. Das Unterfangen, die Menschen mit Musik unmittelbar zu berühren, ist ein bürgerlicher Gedanke. Der Adel wollte von seinen Musikdomestiken bedient, er wollte nicht berührt werden. Lubimovs Tangentflügel, er spielt auf einem Instrument der Regensburger Firma Späth&Schmahl, klingt cembalonah hell und transparent, seine Dynamik ist gleichwohl veränderbar, es verfügt über, noch unperfekte, Pedale.

Die „freye fantasie“ fis-moll Wq 67, Eröffnungsstück der CD, ein Jahr vor dem Tod des Komponisten entstanden, klingt wie komponiert mit Blick auf Mozarts in den 1780er Jahren entstandene Soloklavierwerke in Moll und auf Beethovens einzige Fantasie op. 77 von 1809. Da schließt sich ein Kreis. Man staunt, dass es 1787, drei Jahre vor Mozarts Tod jemand wie CPE gab, der auf Mozarts Niveau komponierte.

Es sind dünne Saiten, die da auf der von Lubimov verwendeten Kopie des Klavierbauers Chris Maene angeschlagen werden. Sie verklingen auch ungedämpft vergleichsweise kurz im Gewebe der Stimmen, die Register trennen sich in ihrem je charakteristischen Klang wie von selbst; man hört dem Instrument an, dass es eine Mechanik hat, die noch nicht ideal funktioniert, je höher die Töne liegen, desto undurchsichtiger wird ihr Klang. Die in diesem Zusammenhang wichtigste der Künste Lubimovs: Er hat sich, so weit das aus so großer Entfernung möglich ist, die Idiome der Zeiten angeeignet, in denen diese Musik entstand. Man spürt, wie die extrem exakt genommenen Verzierungen und Triller, die meist sehr kurzen 16tel-Vorschläge und vor allem die galanten Umwege, die diese Musik immer noch zu machen sich gezwungen fühlt, aufs Erbe barocker Klaviertradition verweisen. CPEs Kunst des Legato, die der Syntax gesprochener Sprache abgelauschte Phrasierung und die gleichzeitige Indienstnahme von immer mehr Tasten der Klaviatur für den Klaviersatz zeigen, wie weit er es gebracht hat auf dem Weg weg von der Musik seines Vaters.

Die Rolle des katalysierenden Modells dabei spielt die Form der Fantasie. In ihr ist der improvisierende Solist, auch wenn er in Gesellschaft spielt, ganz bei sich, ohne Auftrag und Funktion – er ist künstlerisch frei. Mozart und Beethoven waren für ihr „fantasiren“ berühmt. Ihre formalen Neuerungen verdanken sich großenteils improvisatorischen Experimenten. Aus den fantasiegetriebenen „Veränderungen“ eines vorgegebenen Themas wird das Genre „Variation“. Seit Sebastian Bachs Goldberg Variationen wurde es nicht mehr entscheidend weiterentwickelt. Von CPEs Fantasien zu den Variationen in Mozarts Dürrnitz- und Alla turca-Sonate bis zu den Diabelli Variationen Beethovens ist es eine Logik.

Kaum etwas in dieser Musik erinnert so stark an den Ausbruch aus dem Regelwerk des Barock, wie die einst galant arpeggierend dahin perlenden Tonleitern (Skalen), die nun plötzlich in einen nur noch sehr kurz gestuften Fast-Akkord zusammenschnurren. Eine herrische Geste der Wortmeldung. Mit CPE meldet sich erstmals authentisch das Bürgertum in der Musik zu Wort. Alexei Lubimov macht das mit der vom Nachdenken beflügelten Kunst seiner begnadeten Hände genüsslich nachvollziehbar.   Junge Welt, Januar 2019

Carl Philipp Emanuel Bach: Tangere – Alexei Lubimov, Tangentflügel (ECM / Universal).

mein Lubimov-Interview in VAN

CDREVIEWS