Als John F. Kennedy an einem Novembertag 1963 in Dallas den Kugeln der – sagen wir – Feinde einer besseren Welt zum Opfer fiel, war Robert Zimmermann alias Bob Dylan einundzwanzig. „Murder Most Foul“, der vielen Feuilletons in dieser viralen Zeit etliche Zeilen werte neue Song des 78jährigen Dylan, fasst die strukturelle Rolle der Gewalt in gods own country ins Auge. Die hat sich nach der Zäsur des Kennedymords potenziert und globalisiert. „Murder Most Foul“, so höre ich, fünf Jahre jünger als Dylan, den Song, ist zugleich Lebensrückblick einer Generation, zwischen der und dem Grab es 2020 keine weitere Generation mehr gibt.
In der rauh und brüchig gewordenen Stimme des Altmeisters der lange Blick auf eine Geschichte, die mit dem 1960 zum US-Präsidenten gewählten ältesten Sohn einer Millionärsdynastie in Dylans gerade beginnende Künstlerkarriere hinein zu wirken begann. Für kurze drei Jahre.
Wer damals heranwuchs, vergisst den Oktoberabend nicht, an dem sich 1962 irgendwo in atlantischer Ferne mit Raketen beladene sowjetische Frachter der Sperrkette US-amerikanischer Kriegsschiffe näherten. Sie verwehrten den Russen den Weg nach Kuba. Ein Atomkrieg lag zwischen uns und dem Frühstück. Zu den „Unpaid debts“, den Außenständen in Dylans Text, welche die vom tiefen Staat bezahlten Killer per Kopfschuss bei Kennedy eintrieben, gehörte die friedliche Einigung mit dem Systemkonkurrenten, den es nach Meinung der Auftraggeber auszulöschen, nicht aufzuwerten galt. Mit Kennedy, dessen Tod sich Dylan voller Mitgefühl widmet, starb die Hoffnung, vielleicht die Illusion, auf ein zum friedlichen Zusammenleben der Völker bereites Yankee-Amerika auf Nimmerwiedersehen.
In „Murder Most Foul“ erklingen nicht mehr Dylans in epischem Parlando erzählte Mythen nordamerikanischen Lebens wie etwa in „Highlands“ (Time out of my mind). Ein neuer Ton, die entspannte Liturgie des alten Bob Dylan, wie der Kantor einer jüdischen Diaspora, allerdings mit Joint in der einen, einem Glas Single Malt in der anderen Hand. Aber jüdisch, christlich, revolutionär, konservativ – Dylan hatte schon immer seinen eigenen Kopf, seine eigene, oft nicht eben leicht zu entschlüsselnde Art, sich die Welt zurechtzulegen.
Was ihn begleitet? Kammermusik. Klavier, eine Spur von Harmonium, Synthi, ein Paar Streicher, eine koboldhaft einfallsreiche Schlagzeugparodie, musikalischer Minimalismus. Vorübergehende Ahnungen von Melodie in der Bewegung üppig gebrochener Begleitakkorde. Der Meister, chromatisch sparsam, singt auf gefühlt drei Tönen herum. Kein Song in Wahrheit. Ein großes Strophengedicht, die Musik mischt sich nicht ein, sie schafft hart an der Grenze zu herrlichem Monumentalkitsch eine Atmosphäre farbig hingeklimperten Trosts, warmherziger Besänftigung.
Das Ganze geht suggestiv ans Herz. Aus der weltumspannenden Dylan-Gemeinde entnimmt, wie seit Ewigkeiten, jede und jeder dem Text das ihm und ihr Gemäße. Die FAZ entdeckt endlich einmal wieder „unser aller Mordgemüt“ und putzt mithin noch die letzte Verschwörungstheorie von der Platte. Der Spiegel unter der großartig nichtssagenden Zeile „Requiem für Amerikas Seele“ ertappt Dylan beim „Raunen über diverse Verschwörungstheorien“. Im Neuen Deutschland erkennt einer mit Vaterproblemen, der wahrscheinlich auch Goethe für überschätzt hält, Dylan als einen „weitgehend talentfreien Mummelgreis“. Der New Yorker bringt die Sache aufs Wortspiel mit den Begriffen „elusive“(schwer fassbar, trügerisch) und „allusive“ (verblümt, voller Anspielungen). In der ersten Hälfte von „Murder Most Foul“ ist das viermal richtig. In der zweiten bekommt „Amerikas Seele“ ein Gesicht, das sich nicht über den Leisten eines Amerika schlagen lässt, das es nicht gibt.
Die wirklich große Kunst der USA, das gegenüber Typen wie Donald Trump fundamental andere Amerika, hat ein universelles Gesicht. Zwischen dem „Amerikaner“ Larry Fink von der Firma Blackrock und dem „Amerikaner“ Henry Smith von der Firma Arbeitslos gibt es keine Gemeinsamkeit; aber nur von den Henry Smiths, den Bartlebys geht große Kunst aus. Im zweiten Teil wird Dylan frei vom Trauma Kennedy, das für ihn, so scheint es, bis nach Golgatha reicht, der Opferstätte auch eines Henry Smith.
Dylan wird persönlich, ohne direkt von sich zu singen, ein Märchenonkel großer Poesie, nur er kann das so. Patriotisch vorwiegend auf sein Land gemünzt, entfaltet er in gut sieben Minuten die Playlist großer Namen und Musiktitel einer vergangenen Zeit. Von John Lee Hooker (mit dem der sehr junge Dylan auftrat) über Charly Parker, Thelonius Monk, Buster Keaton und Harold Lloyd bis zu Marylin Monroe und Randy Newman, von der mit falscher Tonart (wenn Dylan witzelnd nicht längst die digitale Multiparadigmensprache f-sharp meint) aufgeführten „Mondscheinsonate“ bis zu „Blood stained banner“ und wenn ich richtig gezählt habe – Songtitel und Refrain nur einmal gezählt – dreifach Shakesspeare, eine sehr persönliche, schätzungsweise neunzig Prozent großer US-Kunst beiseite lassende Auswahl.
Ein Geschichtspanorama gleichwohl. Der Sound einer Lebensspur der Generation von Hiroshima, My Lai und Woodstock, von Watergate, Tschernobyl und „Mister Gorbatschow, tear down this wall“. Dylan hat eine Nase für historische Momente, er steht beim Weltgeist unter Vertrag. „Murder Most Foul“ trifft im Frühjahr 2020 auf ein Publikum, das sehr offene Ohren hat für Töne wie diese. Es verlangt nach Trost, nach Orientierung. Aber der Meister hält sich raus, er spendet nur Trost. Okay, er ist aufseiten Kennedys. Aber was heißt das schon? Er legt seinem Sprechgesang leise Betonungen unter, kaum spürbar. Nicht Parteinahme, kaum Kommentar, mehr Erwägen als Abwägen. Es ist, als sitze er direkt neben den Mördern, er kennt sie und ihre Macht und er streicht die Segel. Sein Zynismus ist voller Mitleid mit den Opfern.
Send me some lovin‘ / Then tell me no lie / Throw the gun in the gutter and walk on by… Da schaut einer traurig zu, wie die Welt untergeht, seine Welt. Die Gelassenheit, mit der er das tut, auch die intime Begeisterung fürs Panorama einer untergegangenen großen Tradition sind es, die trösten und traurig machen, ratlos und bewegt wie die Gegenwart, in der wir leben. In ihrer Ungewissheit liegt für nicht wenige auch große Hoffnung. Die Dialektik des geschichtlichen Moments hat uns beim Wickel: die Praxis. Wir machen Erfahrungen, das kann unangenehm sein. Wir hören „Murder Most Foul“. Noch einmal ist Bob Dylan der Sänger der Stunde. Junge Welt, April 2020