Rocco Schamoni.Große Freiheit.

Links neben dem „Salambo“ gab es in der Großen Freiheit ein Haus fast ohne Öffnungen. Irgendwo oben Fenster. Leere Fläche in der Mitte. Unten eine Tür.  Eines Abends drückte ich dort auf die Klingel. Ich war Kunsthochschulstudent und trug unterm Arm eine mit meinen Werken gefüllte  Mappe. Ein befreundeter Werbegrafiker hatte mir die Adresse des Hauses mitten in St. Paulis neonbunter Prachtgasse gegeben. Gegensprechanlagen existierten Anfang der Siebzigerjahre noch nicht. Der Summer, falls es ihn schon gab, war kaputt. Nach einer Weile ertönten von oben Rufe. Jemand warf mir ein Schlüsselbund herunter. Die Wohnungstür oben war offen. Zigarettenqualm, Jimi Hendrix, kein Flur, man betrat ein riesiges Zimmer mit niedriger Decke, nach hinten hinaus viele Fenster. Im Halbdunkel erkannte ich Sessel, an der Wand gerahmte Bilder, einen großen, halbhohen Couchtisch, ein breites Sofa, überall Mädchen und einen Mann in Jeans und Wildlederjacke mit Halstuch. Er begrüßte mich, wies aufs Sofa. Es amüsierte ihn offensichtlich, dass mich die Anwesenheit ausschließlich barbusiger Frauen in Lederweste und Minirock  ausgesprochen verlegen machte. Er ging hinaus. Ich bemerkte eine Art Zigarrenkiste in der Mitte des Tisches, voll bis oben mit sauber gedrehten Tüten. Mh. Ich griff zu. Eine goldberingte Pranke legte sich schwer auf meine Hand. Ein breitschultriger Typ in Schwarz mit superhellem Blondhaar und dicken Lippen sah mich gekonnt schweigend an. Es handelte sich um den Boxer Norbert Grupe, damals bekannt unter dem Namen Prinz Wilhelm von Homburg. Mein Gastgeber kaufte mir in seiner Eigenschaft als Sammler an diesem Abend für die damals stolze Summe von achthundert Mark zwei Aquarelle ab, er sagte: „Paul Klee kann ich mir nicht leisten, aber Deine Klees sind auch nicht schlecht“. Er hatte eine Etage im Eros-Center, hieß es, seine Sammlung war erlesen, er hatte Geschmack und er liebte es offensichtlich, ihn zum Einsatz kommen zu lassen.

Anfang der 1990er wartete ich mit Ernst Kahl im Zuschauerraum des „Logo“ auf den Beginn eines Garagenrock-Konzerts. Ein mittelgroßer Typ trat auf den Zeichner zu. „Leih mir mal’n Heiermann“. Kahl gab ihm einen Fünfer. „Wer war das?“ „Rocko Schamoni“. Kannte ich nicht. „Kennt keiner“ sagte Ernst. „Aber alle sind sicher, er wird mal berühmt“.

Zwei Geschichten, an die ich mich erinnerte, als ich Rocko Schamonis neuen Roman „Große Freiheit“ in die Hände bekam. Seinen Helden Wolfgang „Wolli“ Köhler gab es wirklich. Als er mir 1970 zwei Blätter abkaufte, war er seit vier Jahren Bordellbetreiber. „Große Freiheit“ endet 1966 mit Köhlers Entschluss, sich im Eros-Center einzukaufen. Das Buch ist der erste Teil einer von Schamoni geplanten Trilogie über den St. Pauli-Kosmos.

Wolli Köhlers Leben beginnt 1932 im sächsischen Waldheim. Mit achtzehn hält es ihn nicht länger in der väterlichen Schlosserei, die Provinz ist grau, sie beengt. Der Zaubertraum von der „Freiheit“ treibt ihn über Chemnitz, die Wismuth und Ostberlin nach Westen. Er ist Uranförderer, Volkspolizist, Agentenverschnitt bei den Engländern, Zirkusarbeiter und Bergmann in  Marl. Dann endlich landet er auf dem Hamburger Kiez. Er fühlt sich sofort zu Haus, es ist sein Ding, er macht Karriere. Er findet dort exakt die zu seiner Zeit für ihn erreichbare Sorte Freiheit.

Ein antifaschistischer Schutzwall entsteht…

Aus der Vergangenheit bringt er eine lebenslange, auf Briefe beschränkte, Liebe zur Mutter mit, eine tiefe Neigung zur Kunst, er malt und zeichnet, schreibt Gedichte und Geschichten. Und eine gewisse politische Linkslastigkeit. So kommentiert er in den wenigen Passagen, in denen in Schamonis Buch etwas ausführlicher reflektiert wird, den Bau der Berliner Mauer im Sommer 1961. Er sitzt gerade in Untersuchungshaft, er wägt ab. „Antifaschistischer Schutzwall“ oder „ummauerter Knast-Staat“? Der erste Mauertote erregt die Öffentlichkeit „Ein Krimineller“, sagt Neues Deutschland. Was der Westen aus ihm macht, bringt Wolli auf den Gedanken, auch da sei möglicherweise üble Propaganda am Werk. „Wenn Freiheit ist, das tun und sagen zu dürfen, was man tun und sagen möchte, dann dürfte ich nicht hier sein. Von der Großen Freiheit zum Untersuchungsgefängnis ist es offenkundig nur ein kleiner Schritt.“

Die Historie spielt eine der Hauptrollen in „Große Freiheit“. Vorab ein kurzer Abriss der Entwicklung des Mitte des 17. Jahrhunderts noch spärlich bebauten Niemandslands zwischen den Städten Hamburg (freie Reichsstadt) und Altona (dänisch). Um die Gegend zu beleben, gewährte der Dänenkönig ihr das Recht jedweden Handwerks und Gewerbes, was zum Straßennamen „Große Freiheit“ führte. Und zeithistorisch wird es schon auf der zweiten Seite. Wolli besorgt als Laufbursche des britischen Geheimdiensts in Westberlin unter anderem Pervitin. Es ist unter den Engländern als „Blitzkrieg-Droge“ begehrt, sie garantierte der deutschen Wehrmacht die ersten drei Kriegsjahre militärische Überlegenheit über Europa, so Schamoni: „Ein ganzes Heer auf Drogen. Ausgerechnet die Deutschen, dieses angebliche Naturvolk, stark und hart und rein. Nichts als ein Witz“. Botho Strauß wird dieses Buch nicht gefallen.

Per eingestreutem Zeitgeschehen (Mauerbau, Kennedy wird Präsident, Schweinebucht, Spiegel-Affäre, Sturmflut) bekommt und gliedert der Roman seinen zeitlichen Raum. Anlässlich der großen Sturmflut 1962 taucht in einem von Schamonis oft sehr komischen Volksdialogen ein gewisser neuer „Innensenator Schmitz“ auf. „Der heißt Schmidt“ ruft jemand dazwischen. „Hartmut Schmidt heißt der“. Wie der Mann wirklich heißt, erfährt die Leserin, im Verlauf einer erregten Diskussion der „Spiegel-Affäre in dem damals angesagtesten Szenelokal Hamburgs, der „Palette“ am Gänsemarkt. „Der irre Strauß“, ereifert sich jemand, „der is’n Handlanger der Amis und verdammt machtgeil, und der wird den Spiegel zersch

Oberleutnant H. Schmidt

lagen.“ –  „Wenn wir nichts dagegen tun“, hält jemand dagegen, „wir sollten auf die Straße gehen“. – „Für wen, für Rudolf Augstein? Der mit den Mächtigen an einem Tisch sitzt? Mit den ganzen Snobs und Reichen. Ich sag euch, der gehört schon längst zur anderen Seite. Geh mal abends ins Restaurant Coelln, in der Innenstadt, in den Austernkeller, da kannst du die ganze Bagage sehen. Paul Nevermann und Helmut Schmidt und Rudolf Augstein, und wie sie alle heißen. Da sitzen sie alle und stopfen sich voll mit Austern und Kaviar. Die stecken doch alle unter einer Decke“. Olle Kamellen, mäkelt die Qualitätspresse. Sie müsste längst eine Gänsehaut haben, so aktuell, wie das alles widerhallt.

Für den Spiegel-Rezensenten hat der Autor zu wenig Distanz zu seiner Hauptfigur. Klar. Spiegel-Leute mögen Hauptfiguren nicht, die in Kernfragen zu viel Distanz zum Zeitgeist haben. Außerdem lässt Wolli, wieder sehr komisch, seine Zeichnungen und Texte in der unter künstlerischen Menschen verbreiteten Hoffnung, sie würden eines Tages als „große Kunstwerke“ daraus auferstehen, in einer Schublade verschwinden, in der ein Haufen ausgelesener Spiegel-Hefte liegt.

Auf den ersten Blick wirkt Schamonis Text über lange Strecken eindimensional, unatmosphärisch, schlicht dahinberichtet. Die Perioden sind kurz und kunstlos, die Syntax eintönig, detto der Sinn. Kaum eine Figur bekommt Profil oder gar Tiefe. Immer wieder holen sich die Leute ein Getränk, zünden sich eine Zigarette an oder werfen eine weg, jemand schenkt jemand anderem nach oder gibt eine Runde aus oder „ext“ sein Glas oder bestellt sich einen Kaffee. Nullsätze wie „Die junge Frau starrt mit missmutiger Miene in ihr Bier“ füllen die Seiten. Man braucht einige Zeit, um zu kapieren, dass hier auf den Spuren einer der wirklichen Größen der deutschen Nachkriegsliteratur, Eckhard Henscheids, oft nicht mittels der Sprache erzählt wird, die Sprache erzählt sich selbst und hat viel zu sagen: „Er ist frei. Denkt er sich. Während er mit seinem Whiskeyglas mit den klackernden Eiswürfeln in der Hand und mit einer Zigarette in der anderen über die Reeperbahn nach Hause geht.“ In einer von Schamoni virtuos dosierten sprachlichen Banalität lässt sich die zeittypische Aufdringlichkeit der bis ins Intimste vordringenden Märkte mit ihrer verheerenden Wirkung und zugleich die Dummheit, Nichtigkeit und Fühllosigkeit des ihnen verpflichteten Bild- und Schrifttums prächtig darstellen.

Der Roman liest sich locker und leicht. Kaum fällt auf, wenn man plötzlich einen schönen, anrührenden Satz, eine stilistisch bemerkenswerte Passage vor der Nase hat. Eine meiner Lieblingsstellen, wenn Wolli, den Zeit-Raum des Romans ausschreitend, einer der beiden Studentinnen wiederbegegnet, deren Nähe ihm die ersten Kieztage zwei Jahre zuvor erleichtert hat: „Er blickt ihr ins Gesicht und sieht so etwas wie eine fern zurückliegende Vertrautheit in ihren Augen. Sie lächelt ihn an, dann umarmt sie ihn, und als er ihr nah ist, riecht er ihren Geruch und erinnert sich wieder ganz und gar an sie. Ein kurzer Moment der Zärtlichkeit umstreicht beide, dann lösen sie sich voneinander und verabschieden sich.“ Das ist Kunst, die aus Gründen Kunst nicht sein will, zumindest scheint das diesem Autor egal. Fast unmerklich wandelt sich an vielen Stellen die Sprache, wenn die Erzählung es erfordert. So liest man, wenn der Boxer Grupe eines seiner Kampfspektakel absolviert, eine veritable Sportreportage. In ziemlich schockierenden Action-Szenen erlebt man die kalte Gewalt und Menschenverachtung, ihr verschwistert die allgegenwärtig professionelle Verwurstung der Sexualität der in „Große Freiheit“ erzählten Pornoversion der freien Marktwirtschaft.

Schamonis Beschreibung der in den 1960er Jahren sensationell neuen Darbietung sich auf der Bühne paarender Menschen ist die Satire einer die Erektion zum Verkaufsschlager hochjubelnden Gesellschaft, die keinen mehr hoch kriegt. Wolli, er ist inzwischen Geschäftsführer einer Bar, in der gestrippt, getrunken und im Ergebnis „nach oben“ gegangen wird, hat als Erster die Idee. Er wohnt den gründlichen Vorbereitungen bei. Vorab während der Proben „schaffen es (die Männer) tatsächlich, auf Befehl eine Erektion zu bekommen, die Frauen haben sich vorher mit Öl vorbereitet.“ Vor der Premiere aber „kriegt der eine der beiden Akteure Muffen, sein Gemächt will nicht mehr.“ Eine der beiden Tänzerinnen, sie scheint ihn gut zu kennen, hilft ihm auf. Spät abends während der Uraufführung wird es erneut spannend, denn wieder kommt einem der Darsteller sein Selbst in die Quere, sein Eumel streikt. „Die Tänzerin spielt übertrieben erregt, kreist mit ausladenden Tanzschritten um den Mann, führt mit ihren Händen Zauberbewegungen in Richtung seines Schwanzes aus, kniet vor ihm nieder, zaubert weiter, und tatsächlich beginnt sich das Organ aufzustellen, das Publikum johlt, so etwas haben sie noch nie gesehen.“ Und um die Sache abzurunden, „spielt das Paar (nach diversen Positionen) einen Orgasmus, zwar nicht sehr glaubhaft, aber sie kommen zumindest zu einem choreografischen Abschluss und verlassen unter begeistertem Klatschen, Pfeifen und Brüllen die Bühne.“

Der ganze Mief einer dem Erstickungstod in Prüderie und Verlogenheit entgegen treibenden Gesellschaft lebt da auf. „Große Freiheit“ ist ein Buch auch über die Adenauer-Republik, die die Politik des Vorgängerregimes auch im brutalen Umgang mit Gefühlen und sexuellem Verlangen fortsetzte. Der Hamburger Regierungsamtmann Kurt Falck war der Rambo eines schon damals bis zum Spiegel reichenden Boulevard. Er spielte den Herakles, der den Augiasstall auszumisten antrat und war in Wahrheit der Sisyphos, der den verflixten, weithin schimmernden, goldenen Stein nicht packte.

Bundespräsident und KZ-Baumeister Heinrich Lübke
 

„Große Freiheit“ ist ein unangestrengter Zeitroman. Wenn Wolli sein Gewerbe mit den Worten beschreibt: „Ich verkaufe Träume von der unbestraften Erfüllung sexueller Fantasien“ und der vor Morden nicht zurückschreckende Geschäftsführer Karl Müller: „Wir verdienen unser Geld mit der Angst der anderen vor der Freiheit“ – meinen beide damit zwei Seiten des uralten Mahagonny. Es ist die vielleicht letzte Scheinalternative des katastrophischen Kapitalismus. Die Epoche, in der das Buch spielt, tastet sich an realere Varianten von Alternativen heran. Schamoni beschreibt auf seine unscheinbar nachhaltige Art, wie sich etwa die Studentenbewegung vorbereitet. Das „Kapital“ ist Wolli zu schwierig. Aber das „Kommunistische Manifest“ liest er wie viele andere in diesen Jahren.

Wolli streitet mit seiner Frau Mauli, die anschaffen geht und sich für Politik kein Stück interessiert. Sie will ihm eine Rolex schenken. „Ich trag’ keine Rolex! Ich komme aus’m Osten, aus’m Sozialismus, was denkst du von mir?“ – „Aber Frauen in Pelzmänteln geil finden.“ – „Na, das is ja was anderes, das ist Erotik, da zählen die Regeln der Politik nicht.“ – „Aha. Wenn du Kommunist bist, was willst’n hier?“ – „Ich will am liebsten Gleichheit und Freiheit. Nicht nur eines von beiden. Das Problem ist: Drüben gibt’s nur Gleichheit, hier nur Freiheit, da wähl ich dann lieber die Freiheit. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich ‚ne Rolex tragen muss, oder?“ – „Aber das Geld aus’m Westen, das willst du dann doch?“ – „Nur als Übergangslösung, bis die Revolution kommt.“ Darauf könnte man sich einigen.

In Wolli und Mauli  und anderen Figuren der Kiez-Unterschicht erlebt der Leser, wie es Menschen selbst in der universellen Käuflichkeit des berühmten Vergnügungsviertels schaffen, Menschen zu bleiben. Mahagonny ist nicht nur künstliches Ebenbild der Warenwelt, es gleicht dem sich staatstragend gebenden Raubkapitalismus nicht nur darin, dass es in ihm ein Paar Gewinner und Legionen von Loosern gibt – unter den Loosern auch in Mahagonny finden sich Träume und Ansätze von Widerstand und Befreiung. Schamonis Looser-Figuren kennen echte Solidariät; sie gehen mit der Liebe um auf eine Art, die sich der Perversität ihrer Vermarktung durchaus bewusst ist. „Du hasst es“, sagt der eben zum Geschäftsführer aufgestiegene Wolli, der seine Frau dazu bringen will, keine Hure mehr zu sein, „aber du machst es trotzdem“. – „Allerdings. Ich hasse die jämmerlichen Freier mit ihren kleinen Portemonnaies und ihren krummen Schwänzen, wie die riechen und aussehen, wie sie mich anschauen, wie sie mich anfassen, das hasse ich. Ich hasse eure dumpfe Lust, ihr seid so billig und einfach zu bedienen, ihr Männer.“ – Warum tust du es dann? Ich könnte das Geld…“ – „Ich will mein eigenes Geld, und ich brauch’ viel davon!“ – „Aber wofür denn? Für die bescheuerten Stilettos, auf denen du kaum laufen kannst? Für die nächste Ozelot-Jacke, die du so gut wie nie trägst? Oder für den Champagner, den du nie trinkst?” Ein Buch über St. Pauli hat natürlich auch realen Sex zu bieten. Schamoni erzählt ihn an Wolli entlang lustvoll lebendig, oft auch wieder sehr komisch, angemessen anschaulich und einfach schön geil.

Der mit dem nach Brand und Wiederaufbau inzwischen fast wiederhergestellten „Golden Pudel Club“ am Fischmarkt erfolgreiche Kneipenwirt und Unternehmer Schamoni weiß, wie man mit gut geschriebener, klug durchdachter Prosa inmitten marktradikaler Barbarei zugleich auf seine Kosten kommt: Er spielt ihr die eigene Melodie vor. Man nennt das in der Marktwelt, wenn ich nicht irre, „Mitnahme-Effekt“. Mit lockerer Hand – ein Schelm, wer Böses dabei denkt –  bedient er in „Große Freiheit“ nebenbei den Voyeurismus und die Sensationsgier der auch im Literaturbetrieb wildernden Kulturtourismusindustrie. Es ist auf seine Art komische Kunst, wie er es augenzwinkernd anstellt, die Leserin von der ersten andeutungsweisen Erwähnung einer gewissen, zunächst unbekannten Rockband aus Liverpool an ahnen zu lassen, um wen es sich da handelt. Was er erzählt, mag einigen noch unbekannt sein. Denn die Beatles, um die es sich natürlich handelt, kennen vielleicht alle im Zusammenhang des berühmten „Starclub“ auf der Großen Freiheit. Die Zahl der Kenner nimmt ab, wenn es um „Kaiserkeller“ und „Top Ten“ geht, wo sie vorher auftraten. Aber die Wenigsten dürften ihren ersten Auftrittsort in Hamburg, das „Indra“ in der Großen Freiheit 64 kennen, wo man ihnen bei Schamoni erstmals begegnet. George Harrison ist noch minderjährig und darum kleinlaut aus Angst, ausgewiesen zu werden. John (scharfzüngig), Paul (eitel) und den damals noch dazugehörenden Bassisten und Mädchenschwarm Steward Suttcliff, genannt „Stu“, erlebt man aus nächster Nähe nicht nur – Bravo-Leser aufgepasst – auf und hinter der Bühne, sondern zusammen mit Paul und John auch in einem Schrebergartenhäuschen in Rahlstedt.

Keiner fehlt, nicht Ray Charles, nicht die Kinks, nicht Tony Sheridan, Jerry Lee Lewis, Bill Haley, Chuck Berry, Brenda Lee, Fats Domino. Es gehört zu den vielen Momenten höchster Komik dieses Romans, wenn der Starclub-Boss Weißleder, Besitzer von neun Striplokalen, einer der ganz Großen des Lasters, im Namen der Moral einschreitet, als sich Little Richard vor den jubelnden Massen im „Starclub“ bis auf die schwarze Haut auszieht. Ohne Little Richard und all die anderen wären wir damals nie bei Marx angekommen. Schamoni, als Musiker ein Fachmann, liefert kleine Expertisen der Musik, die damals auf dem Kietz zu hören und zu sehen war. Sie hat uns die Welt geöffnet und die Augen auch dafür, in welcher Welt wir selbst lebten.

Köhlers Adresse in der Großen Freiheit 11 war zeitweilig eine Attraktion für Literaten und Künstler aus Hamburg und Umgebung. Schamoni konnte für seinen Roman auf Hubert Fichtes „Wolli Indienfahrer“ zurückgreifen; Schamoni stellte nach eigenen Worten mit „Große Freiheit“ eine Art Romanversion von Fichtes materialreichem Interview-Buch über den schöngeistigen Abenteurer aus Sachsen her. Köhler wäre nicht Mittelpunkt solch prominenten Interesses und Held zweier so guter Bücher geworden, wäre er sich und seinen Ideen von Freiheit und Gleichheit, seiner Ablehnung jeder Art von Krieg nicht kraft seiner Neigungen und Ansprüche, kraft auch seiner schier unverwüstlichen Naivität nicht auch in der kleinen Welt der großen Verbrechen treu geblieben.  Er war ein Glücksfall. Für sich selbst und für alle, die von ihm lernen können, noch in den finstersten Ecken der globalisierten Unterwelt den Traum davon nicht aus den Augen zu verlieren, dass die Guten am Ende siegen werden. Junge Welt, Literaturbeilage Leipzig, März 2019

Rocko Schamoni: Große Freiheit. Hanser Vlg. München. 288 Seiten. 20 Euro

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