Ohne Schönberg wäre diese Musik nicht möglich. Ohne Vollblutromantiker wie Ysaye, Sarasate, Kreisler auch nicht, John Coltrane nicht zu vergessen und nicht der in diesem Zusammenhang unselig unvermeidliche Richard Strauss. Vielleicht irre ich, Marc Anthony Turnage, einer der angesagten britischen Komponisten der mittleren Generation, bedient sich auf der neu herausgekommenen CD mit „Shadow Walker“, seinem Konzert für zwei Violinen und Orchester, großzügig im riesigen Gefühls- und Klangfundus der späten Romantik. Zumindest hörend erkennt man unmöglich alles, was da an Tonfällen, Klangfarben, an Schmacht und Pracht verarbeitet ist. Mag also sein, dass Fachmenschen recht haben, denen diese Musik eklektisch erscheint, vielleicht kitschig, vielleicht auch neoklassizistisch. Sie unterläuft den romantischen Impuls, indem sie ihn auf die Spitze treibt. Mit Hilfe von Handgriffen, die die Romantik konterkarieren, bekommt sie etwas Modernes. Aber nicht auf den Wegen Gustav Mahlers, im Verlauf bittersüßer Parodistik. Turnages zwei Sologeigen – im Repertoire kennt man an dergleichen nur noch Bachs Doppelkonzert – bringen es stattdessen fertig, den romantischen Groove noch einmal eins zu eins auszuleben. Mitten in schwülstigen Passionato-Passagen und zuckersüß über die Saiten gezogenen Ariosi bemerkt das Ohr: Das Orchester ist weg, zumindest die Streichersektion ist durch die zwei sich furios und in mächtigen Doppelgriffen übertrumpfenden Geigen ersetzt; sie musizieren auf Augenhöhe, ohne Imitationen oder Echos, ohne sich wechselseitig unterzuordnen. Irgendwann wird der orchestrale Raum der Musik nur noch durch die große Trommel markiert, unromantischer geht’s nicht. In den beiden Geigen aber reibt sich die romantische Essenz im Kontrapunkt an Turnages modernen Orchesterbildungen im Hintergrund. Marxisten würden sagen: Die Romantik ist voll da, aber der Unterbau ist weg. Abgelöst vom historischen Umfeld wird sie zu frei verfügbarem Material.
Auch über die Tonalität verfügt Turnage in einer Freiheit, deren Erfinderlaune die unbefangene Hörerin laufend darüber hinweg hören lassen, dass es hier nicht mehr um das Interagieren von Quarte und Quinte und das schließliche Ankommen auf der Tonika geht. Der musikalische Ausdruck, so scheint es, hat sich bei Turnage von den Tonsystemen emanzipiert.
Soweit ich sehe, kehren beide Solisten, zumindest Daniel Hope – für Hopes Studienkollegen aus Lübecker Tagen, Vadim Repin, mag das weniger gelten – mit diesem Projekt wenigstens für Momente zu ihren Anfängen zurück. Denn bevor Hope mit entsprechend erwartbarem Repertoire Talkshow-Geiger wurde und sich, wer will es ihm verdenken, anschickte, berühmt und wohlhabend zu werden, betrat er mit frischen CDs der Musik von Hindemith, Weill, Walton, Elgar, Schostakowitsch, Strawinsky oder Takemitsu die Bühne. Repin und er spielen engagiert, virtuos und unverdrossen, sie gehen nicht in die Parodistikfalle. Das sie begleitende Borusan Philharmonic aus Istanbul ist kein Orchester der vorderen Reihe, es lässt sich auf Turnage’s Musik gleichwohl mit viel Einfühlungsvermögen und Geschick ein.
Die Koppelung von Turnages „Shadow Walker“ mit Hector Berlioz’ „Symphonie phantastique“ macht Sinn: Berlioz ist – was man Turnage nicht wünschen möchte – in seiner Eigentlichkeit beim Feld-, Wald- und Wissenspublikum der Klassik bis heute nicht angekommen. Vor allem – auf diesem Sektor hat auch Turnage einiges zu bieten – machte er sich durch seine bahnbrechend neue Orchestrierung schon früh vom übermächtigen Beethoven los. Auch die „Symphonie phantastique“, wiewohl vom Publikum mehr wegen des Umstands geliebt, dass Berlioz sich in ihr ausnahmsweise einmal für eingängige Melodien interessierte, ist ein brillanter Beleg für Berlioz’ speziellen Orchesterklang der Extraklasse.
Inmitten einer in der Tendenz auch in der Klassik auf globale Standardisierung und Verblödung setzenden West-Welt ist diese neue CD mutig. Und gelungen. Junge Welt, September 2018
Turnage: Konzert für zwei Geigen und Orchester / Berlioz: Symphonie phantastique – Daniel Hope, Vadim Repin / Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra, Sascha Goetzel (onyx / Note1)