Judina.Schubert.Zum Unmut der Spießer

Die Zeit läuft. Sie läuft der Klassikbranche nicht unbedingt in die Arme. Die Leute kaufen immer weniger physische Tonträger, sie loaden kostenfrei down, wohin die Entwicklung geht, weiß niemand. Die Industrie beklagt sich fürs erste schon mal vorsorgend: Download sei Diebstahl. Allerdings, was sie und die diversen Verleger seit Jahrhunderten beim Urheberrechtekauf uns Kreativen stehlen – Schwamm drüber.

Da fühle ich mich moralisch ermuntert, die nette App 4K Youtube to mp3 zu empfehlen. Man bekommt sie im Internet und es lassen sich damit insbesondere viele alte Aufnahmen, auch etliche neuere, ohne viel Umstände und ganz ohne Kosten auf iTunes oder vergleichbaren Plattformen herunterladen.

Ein Ausprobier-Tip ist die Pianistin Marija Weniaminowna Judina (1899 – 1970). Nicht nur, weil sie nicht mehr unter uns weilt und folglich auch nicht mehr geschädigt werden kann. Sie verbrachte zudem ihr gesamtes Berufsleben in der Sowjetunion und war also, was die ökonomische und soziale Bewertung ihrer außergewöhnlichen Klavierkunst angeht, zeitlebens vor der Phono-Industrie sicher.

Höre ich sie musizieren, wird mir schlagartig klar – so kraftvoll langt sie in den entsprechenden Passagen zu -, wie im Vergleich weichgespült, weichzeichnend, ja weicheiernd heute vielfach Klavier gespielt wird. Keine Frage: Es klingt heute technisch perfekt wie nie zuvor, kultiviert, ästhetisch ausdifferenziert. Etwa der von der Kritik zur Zeit besonders hoch geschätzte Deutsch-Russe Igor Levit. In ihm luxuriert und kulminiert die auch in der Ästhetik längst zur Staatsräson mutierte Ausgewogenheit (neben ihr Platz nur noch für jede Menge Exaltation von Nebensachen).

Wenn dagegen Judina Schuberts Impromptus D 899 und D 935 spielt, setzt sie sich aus, geht Risiko, wagt etwas: Sie lässt uns hören, welche Riesenkämpfe der kleine, empfindsame Mann ausfechten musste gegen eine kalte, gewalttätige Welt, um auch nur halbwegs zu überleben. Bei aller herrlich klingenden Weichheit seines Gemüts, aller Melodienseligkeit, zeigt Judina einen Schubert, der kämpfen kann wie der von ihm bewunderte Beethoven.

Sie zieht sich damit den Unmut der Spießer und Gleichmäßigen zu. Ihnen sind diese Impromptus als Inbegriff von Eleganz, Grandezza und was sie sonst noch bestätigen, trösten oder begeistern mag, ans Herz gewachsen; Judina stört ihren Seelenfrieden. So macht man das heute nicht mehr, sagen sie. Und haben recht. Ihre Medien sorgen ja schon immer dafür, dass man das bei Strafe eines unlukrativen Abseits “heute” nicht mehr so macht.

Aber das anfangs kleine und muntere Thema des c-moll Impromptus etwa wächst sich in den Wiederholungen nun mal zum Marsch aus, die Werte der Begleitnoten werden kürzer, alles spitzt sich zu und geht in den Bass und donnert, begleitet vom hämmernden Orgelpunkt und von rasenden Triolen, seine Botschaft in eine Welt, die alles ist, nur nicht friedlich, auch wenn das Thema am Ende in C-Dur ankommt. Was immer in Schuberts Impromptus das Herz beglückt mit Schönheiten ohne Ende, Judina macht hörbar, wie bedroht es ist, wie zart und schutzbedürftig.

Sie studierte beim gleichen Lehrer wie Horowitz und hat ihr Publikum neben dem klassisch-romantischen Repertoire auch mit zu ihrer Zeit Neuestem wie Strawinky, Schostakowitsch oder Hindemith begeistert. Sie trat früh der orthodoxen Kirche bei. Nach einem Konzert soll sie einmal Stalin, der ihre Kunst sehr schätzte, durch die gutgemeinte Versicherung irritiert haben, sie werde für seine Seele beten. Sie hat es überlebt.   Junge Welt, Januar 2016

Schubert: Impromptus D 889 und D 935

        (der Clip ist lang, es dauert etwas, bis es losgeht)

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