
Auf den Spuren Nixon/Kissingers ein Schulterschluss mit Russland gegen China? Ein gefragter Wunschtraum. Aber wann und wie? Hat der Journalist und Bestseller-Autor Sieren – er wurde von Peter Scholl-Latour gelobt, von Helmuth Schmidt als Koautor geschätzt – hat er vergessen, dass sich die USA 1972 in Maos China mit einem bettelarmen „Entwicklungsland“, einem sogenannten Underdog verbündeten? Sieren lebt zwar berufsbedingt seit 25 Jahren in Beijing. Ihm kann aber auch dort nicht entgangen sein, dass Putins Russland – ökonomisch durch den Ukrainekrieg schwer herausgefordert – wirtschaftlich und militärisch gewachsen und gestärkt aus dem Kampf gegen die US-NATO hervorgegangen ist und weniger denn je bereit sein dürfte, auf ein Bündnisangebot der USA einzugehen. Die zahllosen Vertragsbrüche und Vertragskündigungen des Hegemons machen diesen ohnehin als Bündnispartner nicht beliebter. Dazu die Frage: wo bleibt beim anvisierten Bündnis USA-Russland das alte Europa? Nach fünfhundert Jahren Herrschschaft über die Geschicke der Welt, hat sich dieser Kontinent in der Unterwerfung unter das US-Imperium 2025 endgültig aus der Sphäre weltgeschichtlicher Bedeutung verabschiedet. Putin hat mit dem Beginn der militärischen Verteidigung der russisch-geprägten Ostukraine ab 2014 und mit seiner Militärischen Sonderoperation ab Februar 2022 (völkerrechtswidrig) das Konzept eines europäischen Russland endgültig begraben. Europa winkt, wenn alle Stricke halten, am glücklichen Ende ein Platz am Westrand eines nun wirklich „spannenden“ neuen Kontintens.
Warum also sollte die Volksrepublik das strategische Bündnis mit Russland in Gegenwart und Zukunft aufkündigen; warum sollten zwei der Gründungsmitglieder der BRICS, nachdem der Westen sie nicht wollte, nicht weiter versuchen, an der – Konturen annehmenden – Vision eines eurasischen Kontinents zu arbeiten? Das real existierende Bündnis China – Russland dient erklärtermaßen nicht dem Zweck, die USA zu vernichten, umgekehrt wird ein Stiefel draus: Es ist das US-Imperium, das (ohne dass sein Territorium im mindesten in seiner Sicherheit bedroht ist) seit Obamas Pivot anno 2005 kein Hehl aus seiner erklärten Absicht macht, das ferne China militärisch einzukreisen und mit Gewalt zu erwürgen. Das Bündnis mit einem Partner, der ebenso bedroht ist wie man selbst, macht für Russland erkennbar mehr Sinn, als sich mit einem, allein für Kriege geschaffenen Konstrukt wie der NATO einzulassen.
Der Autor Sieren geht in seiner China-Berichterstattung hybrid vor. Anno 2008 rettete China die Weltwirtschaft nach der vom Westen erspekulierten Weltfinanzkrise vor einem schwarzen Freitag. Zwei Jahre darauf begannen sich die chinesischen Arbeiter gegen die Billiglohn-Zonen und die Millionen Wanderarbeiter im Süden des Landes zu regen (China ist laut WHO seit langem das streikfreudigste Land der Welt). Die Phase, in der die Volksrepublik die „Werkbank der freien Welt“ war, ging planmäßig gesteuert von Volkskongressen und Parteitagen in diesen Jahren ihrem Ende entgegen. Wie schilderte Sieren diesen Vorgang im Jahr 2010, welche Hoffnungen weckten in ihm die Streiks der chinesischen Werktätigen? Mir reichte recherchierend als Antwort der Beginn eines verschlüsselten Sieren-Textes auf ZEIT online:

„Die aktuellen Streiks in China werfen viele Fragen auf“? In jeder Frage steckt die – den Autor politisch verortende – Hoffnung, die chinesische, selbstredend „autoritäre“ Führung wäre nun endlich doch noch in Schwierigkeiten. Denn wenn wer in einer Volksrepublik streikt, muss es in der Logik dieser Hoffnung ein politischer Streik sein. Lohnkämpfe oder Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen nutzen niemand. „Mächtige Gewerkschaften“ und „freie Gewerkschaften“ sind in dieser Logik nur erwünscht, wo sie ihre Zähne ins Fleisch einer ganz speziellen Sorte Regierender graben. Regierende der Sorte mittelalterlich-orientalischer Blutherrscher, islamistischer Kopfabschneider, brutalster Diktatoren überall auf der Welt sind da überhaupt kein Problem. Zur Inkarnation des Bösen schlechthin wird nur, wer den Regeln der Regierenden in Washington nicht folgt . Nur für den Fall, dass den oppositionellen Bewegungen in solchen Länder – von wem auch immer organisiert und bezahlt – ein Staatsstreich, ein Putsch, ein Bürgerkrieg im Geist von Freedom und Democracy gelingt, verleiht ihr der China-Kenner den Ehrentitel „nationalen Arbeiterbewegung“.
„Doch eine nationale Arbeiterbewegung ist nicht in Sicht“, muss Sieren 2010 die Erwartungen seiner Leserschaft dämpfen. Die bald 100 Millionen organisiert für ihre Heimat aktiven chinesischen Kommunistinnen und Kommunisten sind für Sieren offenbar keine ernstzunehmende Arbeiterbewegung. Sie dürfen schließlich als scheindemokratisches Stimmvieh bei Volkskongressen und Parteitagen massenhaft und auf Kommando lediglich immer mal wieder die Hand heben. Westmedienverbraucher kennen vom chinesischen Versuch, eine etwas andere Demokratie zu leben, nur diese Bilder. Der Rest ist Vorurteil und Unwissen.
Damit geht Sieren wie schon bemerkt informationell hybrid um. Er be-wertet stark ideologisiert das politische System Chinas. Und ver-wertet zugleich marktgerecht sein Material in gutrecherchierten, interessanten Geschichten über die glitzernd atemberaubenden Innovationen und andere Phänomene der chinesischen Gesellschaft. Schön und gut. Nur – was könnte der Mann, nah dran wie er ist, über all das erzählen, was uns die Chinesen, aus welchen Gründen auch immer, bislang leider vorenthalten: Informationen darüber, wie das im Einzelnen aussieht und wie das geht, wenn ein Staat seine derzeit 1,47 Milliarden Einwohner erfolgreich dazu motiviert, in jedem Dorf, in jeder Fabrik, in jeder Wohnung der Häusermeere der Megametropolen auf allen Gebieten derart beeindruckende Leistunge hervorzubringen. Die Chinesen bewerten dabei ihre Regierung – nach einer Erhebung des Ash Center for Democratic Governance and Innovation der Kennedy School of Government an der Harvard-Universität von 2020 – zu 93 Prozent positiv; wer in der Bevölkerung das anders sieht, kann jederzeit frei das Land verlassen und, wenn gewünscht, wieder zurückkommen. Sind das dieselben Chinesen, die angeblich von einem eiskalten Einmann-Staat geschurigelt, überwacht, in Arbeitslager gesteckt, zensiert etc. ein Untertanendasein der schlimmsten Sorte erleben? China ist die erste Großmacht der Weltgeschichte, die nicht infolge blutiger Kriege, nicht durch koloniale Ausbeutung ganzer Kontinente zum Reichtum seiner Eliten, zu Souveränität und Macht aufstieg, im Gegenteil, das vieltausdendjährige chinesische Kaiserreich war eines der friedlichsten, entwickeltsten, wohlhabensten und stabilsten Staatsgebilde auf dem Planeten, als es vor etwas mehr als zweihundert Jahren selbst ein Opfer imperialistisch-globaler Aggressivität wurde.
Zugegeben, ich habe die Bücher Frank Sierens nicht gelesen, habe keinen seiner Filme gesehen und ich beabsichtige auch nicht, es zu tun. Hätte er dort allerdings irgendwo China als eine, in langer Tradition nach außen stets friedliche, auch im Innern um Frieden bemühte Großmacht mit einer uralten, großen Kultur beschrieben, die genau sie bis heute ist – ich wäre gern im Irrtum über ihn, ich bäte ihn um Vergebung.