La morte della ragione.Antonini.

La Morte della Ragione heißt Giovanni Antoninis neueste CD. Eine Art Konzeptalbum. Titel und Motto verstehen sich nicht als platter Affront gegen die Ratio, dafür klingen die einleitenden Pavane und Gagliarda zu friedlich und fröhlich. Tod der Vernunft, das meint hier ironisch, den Kopf – zum Nutzen von Kopf, Musik und Tanzbein – abzuschalten durch die Musik. Leben ist weder Denken, noch Nichtdenken. Aber um jede Sekunde Lebens, die einer scheint’s  unabschaltbaren Reflexion zum Opfer fällt, ist es schade. Bevor eins, im Blick einen Baum, ein blühendes Dickblattgebüsch, anfängt zu denken: eine Birke, ein Rhododendron, „sieht“ eins die Birke, den Rhododendron. Was die Philosophen „Wahrnehmung“ nennen, kommt in der alten Welt des transatlantischen Abendlands gegenüber dem, was philosophisch „Erkenntnis“ ist, viel zu oft zu kurz, so könnte man La Morte della Ragione verstehen.

Antonini in action

Im Titel gebenden Eröffnungsstück umspielt und umschmeichelt die figurierende Flöte den cantusfirmushaft schweren Gang der Melodie, sie reißt sie mit in die einladend gute Laune der Soli alter Kornette, Posaunen, Violinen. In der Gagliarda übernimmt das Volk. Antonini auf der kleinen Sopranflöte, begleitet im scharfen Diskant nur vom in gleicher Höhe operierenden Clavicembalo, leitet einen Tanz ein von einer Überlebenskraft, die so nur den im Geldbeutel Armen gegebenen ist, wenn sie denn einmal Zeit für so etwas haben. Wie der Kuckuck im deutschen Volkslied auf seinem Baum, totgeschossen vom adeligen Jägersmann, nach einem Jahr naturhaft wieder da ist, legt da, des immer nur Überlebens überdrüssig, eine plebejische Lust am guten Leben los: Statt immer nur bitterer Klagen – rebellisch fetziger Treibstoff für den Kampf auch der Kunst gegen aufgezwungen schlechtes Leben. 

Die Gagliarda komponierte Giorgio Mainiero (1535 – 1582). Zwei weitere Stücke auf der CD aus seiner Hand sind Teil der Sammlung „Schiarazula Marazula“. Deren Lieder verdanken sich, so eine Anklageschrift der Inquisition, „einer heidnischen Prozession bestimmter abergläubischer Frauen gegen die Riten der Heiligen Kirche“. So nachzulesen im mit zeitgenössischen Bildern von Hyronimus Bosch bis  Artemisia Gentileschis frühfeministischem Gemälde von der kühlen Schlachtung des Holofernes durch Judit,  sowie mit klugen Texten und pointierten Zitaten von Erasmus bis Shakesspeare ausgestatteten Schatzkästlein von Hardcover-Booklet.

Artemisia Gentilesch, Judith und Holofernes

Volksmusik in hochprozentiger Konzentration. Die dem mediterranen Handel mit Orient  und Asien geschuldete Höherentwicklung von Technik und Vertrieb der Warenproduktion während der Renaissance in Norditalien sorgte allerdings auch für fortgeschrittene  Indienstnahme der Künste durch die Herrschenden. Wie es geklungen hat, als die Musik noch allein dem Volk – in früher Arbeitsteilung auch seinen Spielleuten und Gauklern – gehörte, wissen wir nicht, sie wurde noch nicht aufgeschrieben. Der Renaissancemusik aber, das macht sie neben ihrer die Sinne erfrischenden Wirkung so interessant, kann man anhören, wie sich das auf auch musikalische Repräsentation bedachte feudal-bürgerliche Patriziat der oberitalienischen Stadtrepubliken, wie Kirche und Militär sich in wachsender Kenntlichkeit ihrer bedienen.

Stimme – sie war zuerst da in der Musik. Aus dem menschlichen Sprechorgan wird Gesang. Ihn ahmen Flöten, Hörner, Posaunen und alles andere nach, was sich seit Vor- und Frühzeiten an Instrumenten entwickelte. Bis heute heißen die Instrumententypen eines Orchesters und ihre Noten „Stimmen“. Mehrere im Gleichklang ertönende Stimmen in unterschiedlicher Höhe sind wie in Josquins (1440-1521) „Nymphes des bois“ bei aller harmonischen Farbigkeit der in ihnen erklingenden Akkorde einstimmig. Verlaufen die Stimmen selbstständig und imitieren sie einander wie in Gesualdos (1566-1613) Canzon francese del principe und vielen anderen Stücken in La Morte della Ragione,  entsteht Polyphonie oder ein Kanon, mit ihm die Neigung zur barocken Fuge. Giovanni Gabrielis (1557-1612) in punktiertem Dreierrhythmus voranschreitende, voran tanzende  Sonate Nr. 8 ist embryonaler Barock. Die Formen Canzon, Chanson, Tarantella, Pavana verweisen auf Lied und Tanz als Urquellen aller Musik. Wie sie in La Morte della Ragione  „instrumentalisiert“ erklingen, hat seinen Reiz vor allem in den charakteristischen Farben der alten Instrumente, so des herrlich näselnden, schnarrenden Fagott-Urahnen oder der tiefen Flöten. Im Gesualdo-Canzon trennt sich der polyphone Stimmverlauf effektvoll in den je eigenen Klangfarben der verschiedenen gezupften Saiteninstrumente Clavicembalo, Laute, Theorbe.

Der Rausschmeißer: Samuel Scheids (1587-1654) Battaglia – naiv begeisterte Reklame fürs vorindustrielle Heer. Aber seltsam, verglichen mit der laufenden Bundeswehr-Propaganda fürs Mitmachen beim neokolonialen Massenmord, klingt Scheids Battaglia wie ein mitreißendes Plebiszit fürs pralle,  dralle Barockleben. Junge Welt, November 2019

La Morte della Ragione – Il Giardino Armonico/Giovanni Antonini (alpha/Note 1)

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