Melnikov.Four pieces.Schubert.Chopin.Liszt.Strawinsky

Ich stelle mir vor: Ein Zirkuszelt. Stille und Dunkel. Im hellen Rund der Manege vier Klaviere; für jedes Werk eines. An einem sitzt im hochgeschlossen schwarzen Anzug, mönchisch schüchtern und in sich gekehrt, der Pianist. Das Publikum, kreisrund ansteigend platziert, ist von überall in der Lage, die klanglich delikate Charakteristik der vier Instrumente wahrzunehmen. Es spitzt die Ohren. Die Musik ist es wert.

Alexander Melnikov hat für vier seiner historischen Klaviere vier Werke technisch schwierigster Natur ausgewählt, um auf seiner neuen CD die besondere Qualität dieser Instrumente aus der Epochenstimmung und dem Klangideal ihrer Entstehungszeit heraus zu demonstrieren. Das wiederentdeckte Spiel auf den alten Instrumenten, an seinem Anfang vor etwa dreißig Jahren noch mehr Sache nicht ganz so großer Solisten, ist 2018 auf den auch virtuosen Achttausendern angekommen.

„Der Teufel soll dieses Zeug spielen“, so Schubert selbst über die „Wandererfantasie“, das erste Stück der CD. Man kann es auch als überdimensionalen Sonatenhauptsatz hören. Sein Thema kehrt, variationsartig, rhythmisch, harmonisch, im Tempo, zum Nichtwiedererkennen verwandelt, in allen ineinander übergehenden, wie in einer Sonate gegliederten vier Teilen wieder. Melnikovs Alois Graff-Flügel von 1828 erlaubt es, das Fortissimo der kraftvollen Akkorde des Beginns so fein zu dosieren, dass man zwar Schuberts Bewunderung der Kraft Beethovens hört – seine zarte Zurücknahme des beethovenschen Berserkertums allerdings auch. Das tobt sich dann zwar im dritten Satz aus. Aber wie sich dort im variativen Mittelteil der Tastendonner unversehens und zwingend in volkstümliche Tanzseligkeit verwandelt, gehört ganz Schubert. Noch wunderbarer verzaubert der Flügel Schuberts Lied „Der Wanderer“ in den wie mondverhangenen Waldnebeln des Adagio per Moderator-Pedal in wallend hymnische Wehmut.

Unbehelligt von der akustischen Wucht moderner Instrumente kann Melnikov auf dem Érard-Flügel von 1837 die perlenden Kaskaden, den flirrenden Flug durch die Tonarten der frühen Etüden Frédéric Chopins so spielen, wie vom Bach-Bewunderer Chopin gedacht: Hinter der oft als Gemütlichkeit präsentierten Gemütstiefe (Nr. 3), der Heiterkeit (Nr. 7), der Melancholie (Nr. 6) und der revolutionären Empörung (Nr. 12) dieser die Fingerübung nur als Vorwand nutzenden Charakterstücke stehen jeweils genau kalkulierte Tonarten-Dramaturgien. Ihre Geformtheit macht sie modern. Melnikov verdeutlicht das mit kaum glaublicher Fingerfertigkeit und Überlegung.

In den „Réminiscences de Don Juan“ fasst Franz Liszt Aspekte des „Don Giovanni“ von Mozart zusammen, die finstere Commendatore-Musik, das Duett „La ci darem“ und die sogenannte „Champagnerarie“. Liszt macht daraus das klavieristisch für zwei Arme, zehn Finger und ein koordinierendes Gehirn im Idealfall gerade noch Mögliche, Melnikov ist dieser Idealfall. Er weist in seinen klug und gut geschriebenen Booklet-Anmerkungen darauf hin, dass Liszt jede Note exakt aus Mozarts Partitur abgeleitet, Mozarts Dramaturgie nirgends verletzt hat. Zwischen Mozarts fein justierter Dialektik aus emotional riesiger Wirkung und ästhetisch nur das Nötige aufbietenden Mitteln und Liszts, technisch gewiss einschüchterner pianistischer und kompositorischer Gigantomanie scheinen mir dennoch Welten zu liegen. Was sich da auf einem Bösendorfer von 1875 von so etwas wie dem „Inhalt“ der Musik emanzipiert, scheint mir mehr die bereits an heutige Konzertflügel erinnernde, ins Klavierästhetische transformierte Kraft und Rationalität gewaltiger industrieller Maschinerien zu sein. Dennoch, wo sie den mozartschen Humor aufgreifen, machen die Variationen über das Liebesduett zwischen Don Giovanni und Zerlina und auch die Champagnerarie großen Spaß.

Strawinskys von seinem Ballett „Petruschka“ inspiriertes dreisätziges Klavierstück gleichen Namens ist wie für den modernen Konzertflügel komponiert, seine mechanischen Möglichkeiten, seinen im Vergleich zu den alten Instrumenten untransparenten Klang und seine, was die Formung des Tons angeht, unendliche Anpassungsfähigkeit. Das stark rhythmisch konzipierte Stück nutzt den Flügel radikal als Schlaginstrument – der Tanz, aufgehoben in der flammenden Rationalität mit architektonischer Akribie strukturierter Zeitlichkeit, aber auch Zärtlichkeit. Musik, die auf „Innerlichkeit“ keinerlei, auf musikalische Präsenz und die Kraft menschlicher Klarheit dagegen allen Wert legt. Melnikov meistert auch diese Herausforderung mit der ihm eigenen einfühlenden Direktheit. Alles hat seine Zeit (und ihre Interpretationen). Auch die Klaviere im Wandel.          Junge Welt, Juni 2018

Alexander Melnikov: Four pieces – four pianos. Schubert, Chopin, Liszt, Strawinsky – Graff – Érard, Bösendorfer, Steinway (Harmonia Mundi)

Interview mit Alexander Melnikov in Junge Welt

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