Der Südwesten hat’s gut. Gleich zwei außergewöhnliche Orchester- und Chorleiter versorgen seine Klassikfreundinnen mit Höhepunkten, zwei, die grundverschieden sind. 2018 wählte das SWR Sinfonieorchester den flamboyant genialischen Griechen Teodor Currentzis zum Chef. Und seit 2016 inspiriert in Stuttgart der erzgebirgische Kantorsohn Hans-Christoph Rademann die Bachakademie; er aktualisiert ihre Standards und fügte ihr mit der Gächinger Cantorey ein Barockensemble hinzu, das von Beginn auf Höhe der nicht geringen Zahl herausragender bundesdeutscher Barockorchester musiziert.
Rademann, Jahrgang 1965, verdankt seinen Werdegang noch knapp der blühenden Musiklandschaft der DDR, in ihr spielte die evangelische Kirchenmusik eine bedeutende Rolle. In seinen Aufnahmen der Vokalwerke Mendelssohns, Bruckners, Regers und Kreneks bis hin zu Zeitgenössischem (Wolfgang Rihm) zeigt er sich als vielseitig offen. Dem Publikum ist er gleichwohl bislang mehr mit seiner Spezialität bekannt, der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts.
Es scheint Rademanns Persönlichkeit zu entsprechen, von den beiden vollständig erhaltenen Passionen Johann Sebastian Bachs zuerst die zu ihrem Gegenstand, namentlich zur Jesusfigur, kunstvoll distanzierte Johannes-Passion gewählt zu haben, nicht die dem Jünger Matthäus zugeschriebene persönlichere. Rademanns Selbstbewusstsein muss sich scheints nicht spektakulär in seiner Erscheinung äußern, es wirkt im Resultat seiner Ideen.
Der erste Eindruck beim Hören des atmosphärisch extrem dichten Katastrophenalbtraums der im ganzen Werk Bachs singulären Einleitung der Johannes-Passion: Besonnenheit. Leidenschaft oder Furor, so scheint es, finden sich bei diesem Musiker vor allem in der Gründlichkeit, mit der er das musikalische Geschehen durchdenkt. Effekthascherei Fehlanzeige. Was Rademann reizt, scheint eher die Neigung zu ausgetüftelt nachdrücklicher Untertreibung. Von der Weltuntergangsstimmung am Anfang der Johannes-Passion geht dabei nichts verloren. Nur drängt sie sich bei Rademann nicht auf.
Dramatische Wucht und Lebendigkeit wie in der Einleitung finden sich in diesem Werk nur noch in den lutherisch-antisemitischen Turba-Chören, spannungsgeladen und federnd musiziert, mit ihnen kommt für kurze Passagen Handlung ins Spiel. Im Dialog mit den geifernden „Jüden“, den falschen Hohepriestern wird der Evangelist vom Erzähler zum Betroffenen und Akteur. Sein Stimmungsbarometer: eine bei Rademann impulsgeladene, üppig besetzte Continuo-Gruppe als dynamisch tragendes Element der dramatischen Rezitative.
Die kraftvoll barocke Farbigkeit und Unglätte der alten Instrumente passt sich impulsiv und beredt der, wie in historisch-kritischer Aufführungspraxis üblich, kleineren Chorbesetzung der Gächinger Cantorey und dem unaufgedonnert lebendigen Gesang der Solisten und des Chors an. Vokal wie instrumental erklingen alle „Stimmen“ auf Ohrenhöhe. Unmerklich entstehen in den langen, gefühligen Kommentaren und Schilderungen des Passionsgeschehens Gestimmtheiten. Rademann, er kann mit Klangfarben umgehen, verstärkt in „Betrachte, meine Seele“ den Bass mit einem voluminös grottentiefen Kontrafagott, in der Höhe kontrastiert eine Blockflöte, dazwischen die geschmeidig präsente Konzertmeisterin Muyami Hirasaki, eine Barockgeigerin der Extraklasse.
Eine Stimme für sich, sie erinnern an den antiken Chor, sind die über allem schwebenden Choräle. Rademann stattet ihre Homophonie, mit ungewöhnlich durchhörbarer Räumlichkeit aus, er begann seine Karriere als Chordirigent in Dresden. Die Solisten dagegen versteht man nicht nur bestens. Tenor Patrick Grahl als Evangelist und Ariensänger verbindet Mitgefühl und Überblick mit forcierter Klangschönheit, und die englische Sopranistin Elizabeth Watts, begleitet vom schnarrenden Fagott und singenden Oboen, stattet ihren hellen Sopran in „Erfließe, mein Herze“ mit einem für historisches Musizieren ungewöhnlichen, sehr schönen Vibrato aus.
Als Watts‘ Stimme in der von der fabelhaft fahlen Gambe Sarah Perls vorbereiteten und begleiteten Alt-Arie „Es ist vollbracht“ erklingt, ist in der eigenartigen Dramaturgie der Johannes-Passion eigentlich Feierabend. Aber der Bibeltext will es anders. Erst zwei sehr schöne, den tragischen Kehraus der Golgatha-Geschichte mitteilende Arien, fünf Rezitative und einen Chor später ertönt „Ruhet wohl“, der in seiner Chromatik und schrägen Harmonik berührende tatsächliche Schlusschor. Danach allerdings ein weiterer Choral. Man merkt, Bach hat das Stück in 25 Jahren Gottesdienst-Musikalisierung immer wieder verändert. Rademann entschied sich für die vierte und letzte vorhandene Fassung aus dem Jahr vor Bachs Tod.
Currentzis, würde, wenn er Bach im bachseitig nunmehr bestens versorgten Südwesten denn überhaupt aufs Programm setzte, das alles gewiss ganz anders machen. Der Grieche und Rademann sind keine Konkurrenten. Sie ergänzen einander als zwei komplementäre Pole derselben Welt. Der Südwesten hat’s gut. Der Rest der Republik aber via immer vielfältigeren Aufzeichnungs- und Verbreitungsmöglichkeiten gewiss auch. Junge Welt, Juli 2020
Bach: Johannes-Passion BWV 245 – Gächinger Kantorey / Rademann (Carus/Note 1)