Der US-amerikanische Autor Thomas Wolfe wurde mit „Schau heimwärts, Engel“ bekannt. Sein „O, lost!“-Pathos, in dem sich auf romantisch ökonomieferne Weise die Stimmung der großen Wirtschafts-Depression in den USA der zwanziger Jahre ausdrückte, hat mir einst die Dürre der vor-68er Zeit versüßt. Beim Hören einer außergewöhnlichen Neuaufnahme zweier besonderer Klavierkonzerte Mozarts tauchte aus den Tiefen meines Langzeithirns der deutsche Titel des zweiten von Wolfes drei dicken Romanen auf: „Geweb und Fels“ (The web and the rock).
In der Aufnahmen mit dem niederländischen Hammerklügelspieler und Ensembleleiter Arhur Schoonderwoerd, eines sympathisch zurückhaltenden Radikalinskis der Interpretation klassischer Klavierkonzerte, vermisst man den gewohnten Eindruck des musikalischen Hinundher zwischen Klavier und Orchester. Das mag daher rühren, dass das Ohr im orchestralen Dialogpartner des Soloinstruments bei Schoonderwoerd statt eines vielstimmig homogenen Klangkörpers ein raffiniert aufeinander abgestimmtes Gewebe vieler Einzelstimmen unterschiedlichen Charakters wahrnimmt, die kaum je als Gesamtgegenüber auszumachen sind.
Schoonderwoerd vermeidet bewusst das Wort „Orchester“. Schließlich standen den Wiener Klassikern zu ihrer Zeit in der Regel Orchesterformationen zur Verfügung, deren Größe besser die heute übliche Bezeichnung „Ensemble“ verdiente. So ist Schoonderwoerds Ensemble Cristofori in den Streichern wie ein Streichquartett besetzt: Eine einzige erste , eine zweite Geige, ein bis zwei Bratschen und anstelle des Cello oder neben ihm ein Kontrabass treten gegen die wie üblich in Flöten, Oboen, Hörnern und je nach Repertoire auch Klarinetten und Trompeten doppelt besetzte Bläsergruppe an.
Die daraus resultierende, ungewohnt untraditionelle Balance zwischen Streichern und Bläsern beendet nicht nur eine hundertjährige Orchesterklangdominanz der Streicher. Die nunmehr ausgeglichene Dynamik bringt in bislang kaum gehörter Deutlichkeit auch Mozarts unendlich besonnene Satzkunst zur Geltung. Nicht nur das delikate Gewebe aus Bläserstimmen und Streichern ist dem Ohr zugänglicher, man hört wie unter einer Ohrenlupe auch, wie etwa die zweiten Geigen schon mal unter den eigentlich zwischen dem Sopran der ersten Geigen und den Celli liegenden Bratschen spielen. Der eher kleine, aber vielfarbig intenive Ton des Hammerklaviers trennt sich mühelos vom sonst fürs Klavier nur per Klangkraft (und damit zu laut für Mozarts Musik) zu übertönenden Tutti der Orchesterstimmen: An die Stelle von Gegeneinander tritt Kommunikation und gegenseitige Durchdringung.
Das ungewohnt dünne Klangbild der Neuaufnahme verdankt sich freilich nicht allein der minderen Lautstärke. Mozart war der Erfinder des Klavierkonzerts moderner Prägung. Durchaus anders als die Nachfolger bis zu Rachmaninoff und Prokofjeff sind seine Wirkungen oft umso größer, je kleiner der Aufwand ist. Vermutlich sorgt genau diese Dialektik, bestehend aus dem gewaltigen Massiv seiner Gedankendichte und einem beweglich durchsichtigen Stimmen-Geweb, seit zweihundert Jahren dafür, dass der – freilich so etwas wie elastische – Fels Mozart auch als Urheber von Klavierkonzerten derart unerschütterbar in die Musikgeschichte ragt.
Ungewiss, ob Arthur Schoonderwoerd zu seinem Interpretationskonzept auch durch Mozarts erste Versuche im Genre Klavierkonzert angeregt wurde: Das Kind Mozart bearbeitete auf Veranlassung des Vaters die Klaviersonaten des in London lebenden Bachsohns Johann Christian für Cembalo und Streichquartett. Schoonderwoerd weist im Booklet darauf hin, dass der Saal in der Wiener Mehlgrube, wo Mozart einen großen Teil seiner für die opernfreie Fastenzeit komponierten Klavierkonzerte aufführte, bei fünf Metern Höhe nur 17 mal 8,50 Meter maß. Da war, wollte man mit möglichst vielen Zuhörern Geld verdienen, kaum Platz für ein Orchester in heutigen Dimensionen.
Die Akustik in der Mehlgrube soll dumpf gewesen sein. Aber Mozarts Hammerflügel – Schoonderwoerd spielt auf einer Kopie -, deren Klavierhämmer nicht einmal mit Leder und schon gar noch nicht mit Filz versehen waren, setzten sich cembaloartig hell und obertonreich gegen den Dumpfklang durch. Dass Schoonderwoerd all das nun gerade mit Mozarts mit seinem Andante als Filmmusik („Elvira Madigan“) populär gewordenen K. 467, dazu mit dem in unstet dämonischem d-moll gehaltenen K. 466 demonstriert, erscheint als Glücksfall. Denn im vertraut Beliebten lässt sich die erhellende Wirkung von Fremdheit noch immer am besten genießen. Junge Welt, November 2012
Mozart: Klavierkonzerte d-moll K. 466 und C-Dur K. 467 – Arthur Schonderwoerd, Hammerflügel/Ensemble Cristofori (Accent/Note 1)
Mein Interview mit Arthur Schoonderwoerd im Onlinemagazin VAN