Schoonderwoerd.Mozart.Requiem

Kaum ein Werk Wolfgang Amadé Mozarts ist von Mythen so umwabert wie sein Requiem. Noch Milos Formans sich als Entrümpelung des romantischen Mozartbilds verstehender Mozartfilm der 1980er Jahre ließ den Auftrag zur Totenmesse nächtens im Mondlicht vom „schwarzen Boten“ überbringen. Tatsächlich vermittelte wahrscheinlich ein ganz normaler Rechtsanwalt die gut bezahlte Erfüllung eines Wunsches des „exzentrischen Grafen Franz von Walsegg (Wikipedia), er gedachte, seine verstorbene Frau mit einem Requiem zu ehren. Das Werk sollte in der schlosseigenen Kirche aufgeführt werden; als sein Verfasser wollte der im Komponieren dilettierende Graf auftreten. Aber Mozart starb, kaum hatte er den Anfang, das Introitus, vollständig fertigstellen können. Von der Sequenz und dem Offertorium hinterließ er lediglich mal in den Vokalstimmen, mal in der Streicherbegleitung und im Bass ausgeführte Passagen und Skizzen. Ab dem Sanctus stammt Mozarts Requiem in Gänze von einigen seiner Musterschüler, komponiert in seinem Geist, versehen möglicherweise mit Hinweisen des sterbenden Meisters. Auftraggeberin der Vollendung war die um die Auszahlung der bei Ablieferung des Werks fälligen zweiten Honorarhälfte bangende Witwe.

Als einer der letzten in einer extrem langen Reihe von auf Tonträgern verewigten Interpreten hat der niederländische Alte-Klaviere-Spezialist und Ensemble-Leiter Arthur Schoonderwoerd sich nun Mozarts finalem Fragment angenommen. Schoonderwoerd ist gegenwärtig einer der konsequentesten Entromantisierer des klassisch-romantischen Repertoires. Wie schon in seinen Darbietungen der Klavierkonzerte Mozarts (und Beethovens) widersetzt er sich durch eine Art Minimalismus der kurrenten Neigung zu einer sich durchweg quantitativ verwirklichenden Klang-Opulenz. Neben den wie üblich doppelt besetzten Bläsern – im Requiem ohne Flöten, Oboen, Waldhörner; die dunklen Bassetthörner und Posaunen dominieren den Klang – besteht Schoonderwoerds Ensemble Cristofori aus einem mit Kontrabass verstärkten Streichquartett. Das Ergebnis ist eine ungewohnt egalitäre Streicher-Bläser-Balance, eine befremdliche Kargheit. Entsprechend klein der Chor, das Amsterdamer Gesualdo Consort, entsprechend unaufgedonnert die Vokalsolisten. Größte Zumutung für die Mozart-Gemeinde dürften die von Schoonderwoerd in den gewohnten Ablauf eingefügten einstimmigen lithurgischen Partien eines griechisch-byzanthinisch anmutenden Vorsängers (Frédéric Tavernier-Vellas) sein. Sie simulieren den Ablauf der – Mozart als Rahmen vorgegebenen – katholischen Totenmesse. Und auch die von Schoonderwoerd aufgrund von 1956 aufgefundenen Mozart-Skizzen nachkomponierte Amen-Doppelfuge am Ende des Lacrimosa fordert zum Widerspruch heraus. Aber warum sollte Schoonderwoerd den vielen, bis heute in ihrer Autorschaft unaufgeklärten Ergänzungen dieses gleichwohl zu den beliebtesten und meistaufgeführten Mozartwerken zählenden Fragments nicht eine weitere hinzufügen? Er hat in den stets selbstverfassten, oft großartigen Solo-Kadenzen seiner Konzertaufführungen bewiesen, dass er im Geist der Komponisten zu denken und zu fühlen versteht.

Mir wird beim Hören seiner Ein- und Hinzufügungen zweierlei klar: Das Requiem war von Mozart selbst als – im gottesdienstlichen Gebrauch mehrfach von diesem unterbrochener – Teil eines übergeordneten Ablaufs konzipiert. Die Anfänge der auf die Einfügungen folgenden Requiem-Teile klingen niegehört plausibel. Durch Schoonderwoerds Ideen, sie müssen nicht die endgültige Lösung aller Requiem-Probleme bedeuten, tritt endlich einmal der problembeladene Patchwork-Charakter dieses unvollendeten Mozartwerks hervor. Darüber hinaus bewährt sich auch in dieser Aufnahme erneut die Sparsamkeit der Ästhetik Schoonderwoerds als ein Moment alternativer Klangprachtentfaltung. Wie im von zu viel Fett befreiten Menschenkörper gewinnt die Muskulatur der Musik Anschaulichkeit, Schlankheit, Spannung. In bitte nicht mit Body Building zu verwechselnder Logik hört man Struktur und Details, mit ihnen die Logik des Ablaufs deutlicher als gewohnt.

Arthur Schoonderwoerd hat einnmal mehr viel gewagt. Ob es eine der „großen“ Requiem-Aufnahmen geworden ist, wird die Zukunft zeigen. Mir gefällt sie schon heute.     Junge Welt, Augut 2018

Mozart: Missa da Requiem c-moll K. 626 – Lucie Chartin, Marian Dijkhuizen, Charles Daniels, Harry van der Kamp / Ensemble Cristofori / Gesualdo Consort / Arthur Schoonderwoerd (Accent / note 1)

VAN-Artikel über Arthur Schoonderwoerd

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