Schostakowitsch.Konzerte.Preludes.Melnikov.Faust.Isabelle.

Es gehört zu den  Ritualen des bürgerlichen Kulturbetriebs, beim Auftauchen des Namens Schostakowitsch erst einmal die Stirn in Falten zu legen und über die Stalinzeit zu sinnieren. „Wenn es schon nicht gelingt, der grob vereinfachenden Diskussion über die Frage ‚Kommunist oder Dissident?’ zu entgehen, die jahrzehntelang jede Beschäftigung mit Schostakowitsch beherrschte“, stellt im Booklet einer neuen CD mit den beiden Klavierkonzerten und der Violinsonate Schostakowitschs der russische Pianist Alexander Melnikow fest – „wie soll man da auch nur anfangen, Aussagen über seine Musik zu machen?“ Die war bislang kaum weniger schwer zu enträtseln und gar zu „verstehen“ als die Ära Stalins mit ihren historischen Leistungen und mit zugleich ihren in den Ausmaßen, in ihrer empirisch verbürgten Realität offenbar bis heute nicht seriös zu erfassenden  Schrecken, Verbrechen und Opferzahlen.

Schostakowitsch hätte um ein Haar zu den Opfern gezählt, er machte Schlimmes durch, nicht nur während des faschistischen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion. Trotz Alternativen – er trat oft auch im Westen in Erscheinung – hat er seine Heimat und ihr politisches System nie verlassen. Viele seiner Werke behandeln „öffentliche“ Themen. Die Belagerung Leningrads (7. Sinfonie) kommt ebenso vor, wie das Massaker von Babij Yar (13. Sinfonie) oder der rote Oktober (2. Sinfonie). Schostakowitsch komponierte als Zeitgenosse aber auch in solchen Werken, deren Musik vom Innenleben des Komponisten ausgeht. In der Violinsonate op. 134 vergisst man, hier ähnelt Schostakowitsch seinem Freund und Genossen Hanns Eisler, im lakonischen Trauertanz des ersten, in der synkopisch aufgeladenen Rhythmik des zweiten und in der zärtlichen Kontrapunktik und dann eruptiven Entschlossenheit des dritten Satzes – dass die Musik durchgehend in Zwölftontechnik gearbeitet ist.

So wie die Geigerin Isabelle Faust und Melnikow sie spielen, bekommt die oft als ästhetische Rechenaufgabe missverstandene Kompositionsmethode Arnold Schönbergs hier, um ein Wort Mozarts zu nutzen, „einen Arsch, einen Kopf hat sie izt“. Neben den Solisten macht auch das Mahler Chamber Orchestra, geleitet vom mit seinen Mozart-Interpretationen gerade die Klassikszene aufmischenden Dirigenten Teodor Currentzis, Schostakowitschs beide Klavierkonzerte zu einem scharfkantigen, gut durchleuchteten Hörvergnügen. Selbst der zweite Satz des zweiten Konzerts, vom gnadenlos utilitaristischen Klassikbetrieb längst als Wellness- und Yogahintergrund verschmaust, lebt hier zum Exempel dafür auf, dass Schostakowitsch, wenn ihm danach gewesen wäre, mehr von dieser himmlisch trostreichen, die Utopie streichelnden Musik hätte zur Welt bringen können.

Er war technisch und ästhetisch früh komplett und darum auch später noch in der Lage, weit zurückzugreifen. Die 24 Preludien & Fugen op. 87, angeregt durch einen Leipzig-Besuch zum Bachfest 1950, lassen das hören. Wüsste man den Urheber nicht, erst im zweiten oder dritten Stück ginge einem auf, dass es sich nicht um Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ handelt, sondern um eine, wie Melnikow im klugen Cover-Text ausführt, im mörderischen Wechselbad einer extremen Epoche entstandene, höchst eigen-artige Spielart musikalischer Moderne. Aus Schostakowitschs analytisch bis heute nur rhapsodisch erfassten harmonischen Gebilden wie auch aus seiner Art, die Fuge in der Mitte des 20. Jahrhundert noch einmal zu verwenden, geht fürs Publikum, Melnikow sorgt dafür, eine eindrucksvoll kostbare und herzensnahe Musik hervor.

Schostakowitsch war das Beispiel eines Künstlers in einer noch nie erprobten Art von Gesellschaft, die sich keine Minute ihrer Existenz in Ruhe und Frieden entwickeln konnte. Ihre Führer und deren Gefolgsleute haben dabei unter anderen auch viele Musiker in einer Weise behandelt, die wir heute, nach unseren Kriterien, als beschämend empfinden. Lächerlich aber, wenn sich Leute als Richter aufspielen, die in ihrer eigenen Geschichte Legionen von Künstlern verhungern ließen, nicht zu reden von den vielen, deren Talent nie eine Chance hatte, weil sie in der für künstlerische Begabungen sehr ungünstigen Ecke der kapitalistischen Gesellschaft geboren wurden.  Junge Welt, Juni 2015

Schostakowitsch: Klavierkonzert Nr. 2 op. 102, Sonate für Geige und Klavier op. 134, Konzert für Klavier, Trompete und Streicher op. 35 / Preludien und Fugen – Melnikow / Faust / Berwaerts / Currentzis / Mahler Chamber Orchestra + 24 Preludien & Fugen op. 87 – Melnikow (beide Hamonia Mundi France)

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