Staier.Beethoven op. 31 + Variationen op. 34 u 35

Andreas Staier gehört weder zu den Löwen der Salons noch zu denen der Tasten. Er hat andere Qualitäten, er schätzt zum Beispiel das Ungewöhnliche. Der bei Licht besehen am Ende ja immer noch aus Menschen bestehende „Markt“ hat um die dreißig Jahre gebraucht, bis er sich von den standardisierenden Hörgewohnheiten moderner Konzertflügel losreißen und den Besonderheiten des Klangs alter Tasteninstrumente zuwenden mochte. Auf ihnen spielt Staier seit dreißig Jahren.

Auf dem Cover seiner aktuellen Doppel-CD mit Beethovens drei Klaviersonaten op. 31 sowie den Variationen op. 34 und 35 steht: „Ein neuer Weg“. Ein Zitat aus einem Beethovenbrief an Freund Krumpholz. Nie wäre Haydn oder Mozart eingefallen, ihre Arbeit nach dem Stand des Fortschritts an formaler und ideeller Neuheit zu bewerten. Die vom gerade entstandenen Musikmarkt veranlasste Konkurrenz drängte ihn, er wollte damit nicht Umsatz-Spitzenreiter werden, er wollte Spitzenavantgardist bleiben.

Opus 31 Nr. 1 / Allegro

Ein neuer ist immer auch ein anderer Weg. Seit Jahrhunderten ging es der Musik um liedhafte Rundung, um schöne Melodien und vor allem darum, den Menschen mit der Musik etwas über sie selbst zu erzählen. In Opus 31 aber erzählt Beethoven seinem Publikum etwas übers Musikmachen und sein Ergebnis.

Es trifft sich, dass der in seinem Herangehen als eher intellektuell, für gesteigerten Gefühlsausdruck eher unzuständig geltende Staier mit dem experimentellen Ansatz Beethovens in Opus 31 besonders gut zurechtkommt. Er füllt das vermeintlich blutleer Ausgedachte in der „Musik über Musik“ (Peter Gülke) mit einer ungekünstelten Lebendigkeit, zu der Witz und Urigkeit inspirieren, mit der Beethoven auf dem neuen Weg mit den Erwartungen des Publikums spielt. Staier lässt aus den Arpeggien und gebrochenen Dreiklängen der mittleren Sonate Nr. 2 Rätsel und Wunder aufsteigen. Wenn am Beginn der Reprise des Kopfsatzes (6‘34“) überraschend nicht der ohnehin seltsame Anfang noch einmal erklingt, sondern in einer Art Insichgehen absoluter Musik eine einzelne Stimme in nicht mehr steigerbarer Reduktion – entsteht unter Staiers Fingern in diesem Rezitativ etwas wie urzeitliche Einsamkeit.

Staier wirkte in der Vergangenheit auch schon mal wie einer, der sich beim Einsatz seiner unbegrenzten Möglichkeiten im Weg stehen konnte. In den Beethovenwerken von um 1802 findet er den richtigen Ton nicht nur, er hat ihn im Blut. Wie befreit von seinem Können spielt er auf. Der im Bass transparente, auratisch tiefe, im oberen Bereich zauberhaft feine und silbrige Klang seines Wiener Mathias Müller Flügels aus der Sammlung Edvin Beunk hilft ihm. Aber Ohr und Herz gewinnen vor allem sein Gefühl für den einem Tastenartisten wie Beethoven angemessenen Anschein von Unbedenklichkeit noch in den gewagtesten Risikopassagen, sein Sinn für die Neigung zum Rezitativischen im Opus 31 schon in der dem Abschied  geweihten Reprise (4‘51“) der Nr. 1, sein unauffällig treffsicheres Rubato.

Melodien zum Hinhören gibt es in Opus 31 so gut wie keine. Es ist die Motorik, die mitreißt, wenn man es macht wie Staier. Mal in aller satztechnischen Raffinesse orchestral üppig, mal, wie in den Finalsätzen von Nr. 2 und 3 in der Geschwindigkeit beschwingt und wie ausweglos. Mit einer herzerweiternden Ausnahme: Das zweite Thema im Adagio von Nr. 2. Von seinen Einzelteilen als eine Art ersten Themas stückweise vorbereitet, fügt es sich als zweites Thema (2‘02“) zu einer Melodie, süß wie der Flug des Vogels Erleichterung. Mit ganz am Ende einer Ahnung von Rezitativ entsteht ein kleinlaut bezaubernder Schluss – und los kann’s gehen mit dem Perpetuum mobile des Finales als Auftakt zur letzten, aufgeräumten Sonate op. 31 Nr. 3.

Die Anbahnung neuer Wege auch in den Variationen, sie sind eine Domäne Beethovens. Und vom Opus 31 können wir dank Andreas Staier künftig endgültig wissen, es besteht durchaus nicht nur aus der mit Recht bewunderten Nr. 2. Spielt eins sie allein, fehlen ihren neuen Wegen Anfang und Ende. Junge Welt, Mai 2020

Beethoven: Sonaten op. 31, Variationen op. 34 und 35 – Andreas Staier, Pianoforte (Harmonia Mundi France)

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