für Andreas Staier
„Apropos wegen seinem Mädel“ – so beginnt einer von Mozarts vielen Briefen. Er wurde in Augsburg geschrieben, an den daheim in Salzburg verbliebenen Vater, er hatte von seinem fürsterzbischöflichen Dienstherrn keinen Urlaub bekommen. Die Mutter begleitete den 21jährigen Sohn auf die große Akquise-Reise nach Westen. Sie starb, der Tiefpunkt einer auch sonst komplett erfolglosen Tour, in Paris. Die dort komponierte a-Moll Sonate könnte eins als Reflex auf diesen, für den jungen Mann völlig unerwarteten Todesfall hören.
Das „Mädel“ war die Tochter des in Augsburg ansässigen Klavier- und Orgelbauers Johann Andreas Stein; sie ging später als Gattin des Klavierbauers Andreas Streicher nach Wien und spielte als Nanette Streicher noch im Leben Beethovens eine rühmliche Rolle.
Anna Maria Stein war, als Wolfgang Amadé ihr in Augsburg begegnete, achteinhalb Jahre alt und hatte sich in der Stadt an den Klavieren ihres Vaters als eine Art Wunderkind bereits einen Namen gemacht. Mozart berichtet nach Hause: „Wer sie spielen sieht und hört und nicht lachen muß, der muß von Stein wie ihr Vater sein“, Mozarts Briefe sind amüsant, er lässt keine Witzelei, keine Pointe aus. Er sagt zugleich etwas. In der Art, wie er das Spiel der kleinen Virtuosin beschreibt, liegt Mozarts präzises und zugleich untrügliches Urteil darüber, wie man nach seiner Meinung Klavier spielen müsse. So soll man beispielsweise in der Mitte sitzen und sich nicht dauernd „den Discant hinauf“, also nach rechts neigen, wo die Töne beim Klavier nach oben gehen, „um Grimasssen zu machen“, die Augen zu verdrehen und zu „schmutzen“ (unsauber zu spielen). Sie hält die Arme zu hoch, womit nicht die Finger, sondern der Arm die Musik macht, jeder Klaviervirtuose kann sich hier Rat fürs Leben holen. „Sie kann werden“, räumt Mozart ein, „sie hat Genie; aber auf diese Art wird sie nichts, sie wird niemalen viel Geschwindigkeit bekommen, weil sie sich völlig befleißt“ – vermutlich wegen des zu hohen Arms – „die Hand schwer zu machen“. Und dann eine Zentralaussage zu seiner Musik und wie sie zu spielen wäre: „Sie wird das Nothwendigste und Härteste und die Hauptsache in der Musique niemalen bekommen, nämlich das Tempo, weil sie sich von Jugend auf völlig beflissen hat, nicht auf den Takt zu spielen“.
Zwei Stunden, berichtet der Sohn nach Salzburg, habe er mit Stein allein über diesen Punkt geredet und den viel älteren Meister am Ende „aber schon ziemlich bekehrt.“ Es folgt das berühmte Diktum, dass er selbst „immer accurat im Takt bleibe“ und allergrößte Verwunderung dadurch hervorzurufen wisse, dass bei ihm, da seine Hände unabhängig voneinander agierten, selbst in einer der unmerklichen Tempodehnungen der Rechten die linke Basshand „nichts darum weiß“ und also höchst genau im Tempo bliebe: „Das Tempo rubato in einem Adagio (…) können sie gar nicht begreifen; bei ihnen giebt die linke Hand nach“.
In einem eine Woche zuvor abgefassten Brief (17. Oktober 1777) gibt er eine dito berühmte, detaillierte Beschreibung der steinschen Hammerflügel, ihres Klangs, der Funktionsweise ihrer Mechanik. Stein als der in seiner Zeit für eine Weile Innovativste seiner Zunft verlieh der – nach Erfindung des Hammerflügels durch den Florentiner Bartolomeo Cristofori vom Beginn des 18. Jahrhunderts an – explosiven Entwicklung des europäischen Klavierbaus wichtige Impulse. Man sieht den kleinen Maestro förmlich durch Augsburg wandeln, genial eitel und durchgehend freudig darauf erpicht, andere mit seiner Musik und seiner Kunst auf den schmalen Tasten aus Ebenholz oder Elfenbein in ein Erstaunen zu versetzen, das regelmäßig in Begeisterung endet.
Eine besondere CD hat all das recht gezielt heraufgerufen. Sie erschien bereits 2007, also Ewigkeiten weit weg von einer Gegenwart, in welcher, auch für die klassische Musik, Zeit, bei Strafe ihres Untergangs, immer Geld sein muss.
Zwei Außergewöhnliche unter den Tastenkünstlern des Landes, Andreas Staier und Christine Schornsheim, haben die CD unter größten Mühen zur Welt gebracht. Nach meiner Erinnerung blieb der Produktion in der Branche die verdiente Resonanz versagt, bei gleichzeitigen Höchstkosten für allerlei Spezialisten einer in vielen Punkten ausgefallenen Unternehmung. Auch mir war das Ganze zu seiner Zeit allzu speziell.
Aber was haben wir damals – nicht! – gehört, was ist uns entgangen. Da setzen sich zwei Ausnahmekönner zum Musizieren an ein von Stein gebautes, besonderes Instrument. Sie sitzen gegenüber, französisch: vis a vis, so auch der Name dieses Instruments. Sie arbeiten beide mit und in dem großen Klangorbit des einen, vermutlich bergfichtenhölzernen Klavierkorpus. Dessen Organismus besteht aus einem instrumental-mechanischen Zweierlei: die eine der beiden Ausführenden sitzt an einem Cembalo, der andere andere an einem Hammerflügel, eine historische Konstellation. Denn beide Tasteninstrumente repräsentieren die Extreme des aktuellen Stands einer Klaviertechnologie, die sich im Zug der industriellen Revolution gerade anschickte, eine rasante Entwicklung zu nehmen. Ein 1777 frisch der Vergangenheit anheimgefallenes Cembalo, im selben Gesamtklang mit einem modernen Hammerklavier, einem Pianoforte. Auf ihm konnte im Unterschied zu Orgel und Kielflügel ein Leise und ein Laut erzeugt werden – Cristofori nannte seine Epochenerfindung “Gravecembalo col piano e forte –; damit stand dem Klavier Dynamik zur Verfügung. Nebenbei war Mozart – er brauchte Repertoire für seine Auftritte mit der Schwester, vierhändig und an zwei Klavieren -, wie es scheint, der Erste, der solche, von zwei Tasteninstrumenten aufzuführende Kompositionen für die europäische Musikzukunft kunstrangig und salonfähig gemacht hat.
Die Vis-á-vis-CD thematisiert einen für ein modernes Mozartverständnis zentralen Punkt: Mozarts Verhältnis zu Bach. Der war 1756 gerade einmal sechs Jahre unter der Erde, als Mozart zur Welt kam. Aber was hatte sich, beginnend schon während des letzten Lebensabschnitts des am Ende vergessenen Bach mit Namen wie Galuppi und Samartini, Gluck, Piccini, Carl Philipp Emanuel Bach, Pergolesi et al. nicht alles getan in der mitteleuropäischen Musik.
Der heranwaschsende, in den 1760er und 1770er Jahren durch den Kontinent reisende Knabe Mozart erwies sich als spielend in der Lage, die Fülle dessen in sich aufzunehmen, was in Italien und Frankreich, in den deutschsprachigen Ländern und bis hin zur britischen Insel überall entstanden war und in der Luft lag an Neuem, er verwandelte es sich an. Dass er es in seinen späten Werken, vorab den Opern, bis in die Gegenwart verlängerte – und auch, dass Mozarts Musik so lange Zeit gespielt wurde, als sei er ein Romantiker –, lässt ihn im breiten Publikum von Bach so weit weg erscheinen.
Aber er hatte 1777 das Kindheitserlebnis Cembalo so wenig vergessen wie das Orgelspiel in der Salzburger Hofkirche. Seine Kindheit muss musikalisch noch überall mindestens von Bachfetzen durchwest gewesen sein. Anfang der 1780er Jahre dann der Durchbruch. Der Wiener k.u.k. Hofarchivar Van Swieten war von 1770 – Beethovens Geburtsjahr – bis 1777 österreichischer Geschäftsträger am Berliner Preußenhof gewesen. Er war dort, ohne von diesem je auch nur gehört zu haben, auf die frischen Spuren des „alten Bach“ gestoßen. „Van Swieten“, bemerkt Alfred Einstein in seiner, 1945 beendeten Mozart-Monographie, „war geweckt“. Er besuchte Carl Philipp Emanuel in Hamburg, sprach mit ihm lange über den Vater; er kaufte autographe Noten und Druckfassungen der Werke Sebastian Bachs und brachte sie mit nach Wien, Kunst der Fuge, Wohltemperiertes Klavier, Orgeltrios, vielleicht einige Präludien und Fugen für Orgel. „ich gehe alle Sonntage um 12 Uhr zum Baron van suiten“ schreibt Wolfgang Amadé nach Haus, „– und da wird nichts gespiellt als Händl und Bach“. Vorwiegend und ausgiebig Händel, in Streichquartett-Fassungen für das hauseigene Vierer-Ensemble. Mozart spielt, als er sich einreiht, den Hammerflügel dazu. Er darf, in Abschriften oder gedruckt, die Partituren, aus denen er spielt, nach Hause mitnehmen – die Partituren auch Bachs! Ein Kreis schließt sich. Wolfgang Amadé, der angeblich so leichtlebige, naive Götterliebling, ist zutiefst verstört. Er arbeitet diese ernste Schaffenskrise gründlich auf. Kaum sind in einer anderen Lebensepoche Mozarts so viele Werke, hier meist Fugen, Fragment geblieben, wie am Beginn des letzten Wiener Jahrzehnts. Es heben sich in diesen letzten zehn Jahren das Erlebnis der Streichquartette Haydns ab op. 20 (bei Mozart am ausführlichsten mit dem vom jungen Beethoven zum weiterdenkenden Eigengebrauch abgeschriebenen A-Dur Quartett KV 464) mit dem Bach-Erlebnis in einer für Mozart neuen Anschauung von Polyphonie auf, grandiose Fugen wie jene im Fragment der c-Moll Messe und im Finale der „Jupitersinfonie“, alles tief durchdrungen vom grundstürzenden Ein- und Untertauchen in Sebastian Bachs Genie.
Der sorgfältig verfasste Booklettext (Michael Latcham, Andreas Friesenhagen) weist darauf hin: Mozart hat „Präludien“ komponiert – vier davon sind auf der CD zu hören –, die barocke Form der Improvisation, des Stehgreifspiels in einer aufgeschriebenen Version, etwas bei ihm ganz Besonderes. Es wird – angeregt von Bach Vater und ältestem Sohn – in Mozarts Händen zu etwas, das er in der c-Moll Fantasie KV 475 und im Eröffnungssatz der dazugehörenden Sonate KV 457 zur Vollendung bringt; die „Fantasie“ wird ab Chopin und Schumann endgültig zum eigenständigen Genre der klassischen Musik (die „Wanderer-Fantasie“ Schuberts ist zunächst mehr eine himmlisch verkappte Sonate in einer, über weite Strecken fantasieartigen Bewegungsform).
Gut möglich, dass die beiden auf der CD erklingenden Präludien in C und in F um 1777 herum entstanden sind, dem Jahr der Augsburger Begegnung Mozarts mit dem Klavierbauer Stein, dem Zeitraum auch des Baus des auf dieser Aufnahme verwendeten Vis-á-vis-Flügels aus Augsburg; heute steht er, stets spielbereit, im Museo Castelvecchio in Verona. Zu Steins großem Erstaunen äußerte der junge Komponist den Wunsch, auch – „denn die Orgel (ist) meine Passion“ – auf dem einen oder dem anderen der in zwei Augsburger Stadtkirchen vorhandenen Pfeifeninstrumente Steins zu spielen. Ein solch großer Clavierist“, erhitzte sich der Orgel- und Klavierbauer, „will auf einem Instrumente spielen, wo keine Douceur, kein Expression, kein Piano, noch Forte statt findet!“ Sieht Mozart anders. „Die Orgel“, schreibt er an den Vater, habe er dem Klavierbauer geantwortet, „ist doch in meinen Augen und Ohren die Königin aller Instrumenten.“ Wie ernstgemeint das ist, werden alle verstanden haben, die ihn im Oktober 1777 an der Orgel der Augsburger Barfüßer Kirche präludieren hörten. Die den Präludien bachgemäß folgenden Fugen – zumindest die eine aus KV 394 – hat die Nachwelt, so Wolfgang Amade‘, seiner Frau Konstanze zu danken. Sie habe ihn ewig genervt, als er, vom siebten Himmel herab, den Tag lang Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier spielte, so sehr „ward sie ganz verliebt darain“ (sie war schließlich eine begabte Berufssängerin): Subito solle auch er so eine tolle Fuge schreiben!
Die Musikwissenschaft mäkelt an der Fuge herum. Mozart habe in Präludium und Fuge KV 394, so Werner Oehlmann, „in freier, doch abhängiger Weise die Form (erneuert), die Bach im ‚Wohltemperierten Klavier‘ gepflegt hatte“. Gut, in den beiden ersten Takten der langsamen Einleitung ist der Themendualismus für Mozarts spätere Verhältnisse wirklich etwas schwach; die Fugen-Themen, wie Alfred Einstein anmerkt, sind für einen wie Mozart nicht mozartisch genug im Vergleich zu allen genuin bachischen Themen bei Bach. Aber allein die unablässig in Sechzehntel-Triolen abwärts rasenden Skalen im schnellen Teil, denen sich starr auf einem Ton ausgehaltene Achteloktaven entgegenstemmen, sind in Händen von Schornsheim/Staier klanglich, strukturell und dramaturgisch ein Erlebnis. Fern jeder Routine, jeden Zirkusverdachts, geht da die Post ab in einer Weise, die beim alten Bach wohl doch noch recht anders klang.
Für den doppelt so alten Instrumentenbauer Stein jedenfalls waren Orgel und Fuge, und dazu wahrscheinlich der alte Bach gleich mit, voll abgetan. Überlebt. Mittelalter. Freilich: Als Mozart seine Orgel-Offenbarung in der Barfüßer Kirche im Oktober 1777 beendet hatte, strahlte Stein: „Das glaube ich, daß sie gern Orgl spielen, wenn man so spielt!“ Folgt, ausgeführt von rechtschaffen biegsamer Handwerkerhand, ein jovial respektvolles Klopfen der teuerbetuchten Schulter eines Genies. Alles klar. Wir verstehen uns!
Möglich, aber eher unwahrscheinlich, dass Mozart die Sonate in D KV 381 je, gespielt auf Steins Vis á vis, gehört hat? Er hätte seine Freude gehabt. Die beiden Sonaten – die erste, weniger mitreißende in B (KV 358), die zweite in D – sind für Klavier vierhändig komponiert; Nannerl und Wolfgang Amadé saßen beim Spielen nebeneinander. Auf der Vis-á-vis-CD entwickeln Schornsheim und Staier, nebeneinandersitzend, ein zweierlei an Klangindividualitäten. Schornsheim im Diskant des Hammerflügels führt in erstaunlich oft den Eindruck eines leicht dynamischen Cembalo erweckender Deutlichkeit und Höhe durch Kadenzen, Themen, Melodien. Während Staier, durchweg begleitend, aber auch mit konzertierenden Ausflügen ins Eigene, mehr zuständig ist für die lebendig bewegte und betont farbige Bassregion.
Auf Nachfrage, ob das mit dem starken Cembaloklang richtig gehört war, kam die Antwort: „Wir haben alles benutzt, was die Kiste hergibt. Man kann ja zum Beispiel auch das Hammerklavier auf die Cembalo-Seite rüberkoppeln“.
Erstaunlich. Jedenfalls entsteht eine einzigartige Klangmischung. Mit dem kielflügelnahen Diskant kommt nicht nur der Klang des Barock ins Spiel, auch seine – von in präziser Elastizität ausmusizierten Verzierungen und arpeggiert präludierenden und entfernte Tonarten durchschweifenden Skalen geschmückte – Aura; eine Domäne der begnadeten Cembalospielerin Schornsheim.
Das Instrument gibt die Bewegungen im Satz Mozarts en détail und per Registerklangdifferenzierung deutlich wahrnehmbar wider. Eins kann hörend begreifen, wie sich da der längstens nicht wegzukomponierende Gegensatz der Übergangszeit zwischen Barock und Klassik, das schier nicht aufzulösend widersprüchliche Miteinander von „galant“ und „streng“ („gelehrt“) – Bach kannte so etwas noch nicht – dialektisch in einer neuen Idee von Polyphonie aufzuheben beginnt.
Das Eröffnungs-Allegro, ein fetziger Spaß. Schornsheim/Staier platzen förmlich vor geballt rhythmischer Energie, da tobt es sich, das Volk, im Tanze selig aus. In der Rückseite des zweiten Themas taucht kadenziell von Fern eine Ahnung der Cherubino-Arie aus dem Figaro auf. Der deutsche Refrain – sagt, ist es denn Liebe, was hier so brennt? – geht überschäumend im prallen Brio baden, er verliert sich im weiteren Verlauf. Das Andante ist einer der in diesen Mozartjahren nicht seltenen langsamen Sätze – inhaltlich ähnlich, aber vielleicht noch ausgereifter: das Andante von KV 448 –, in deren Seelengeschunkel alle Lust, immer wieder vorläufig, irdische Ewigkeit findet.
Kaum irgendwo Erwähnung finden die auf der CD mit dem solitären Klang des Vis á Vis üppig vertretenen sechs Variationen über eine Opernarie von Giovanni Paisiello KV 398. Sie gehen auf ein Burgtheater-Konzert Mozarts im Oktober 1783 zurück, in dessen Verlauf er über das Gesangsstück improvisiert hatte. Vielleicht Anfang 1784 schrieb er die Improvisation auf, er ließ sie drucken. Ein von einer Variation zur nächsten immer packenderes Stück in zunächst elegant aufgelockertem Satz, der sich in an Franz Liszt erinnernder Weise horizontal und vertikal verdichtet und, sehr ungewöhnlich, in den letzten drei Variationen in jeweils einer, am Ende an Bachsche Orgelpräludien erinnernden Solokadenz endet, Cembalo und Hammerflügel in verwirrendem Wechsel.
Steins Instrument, eine beglückend präsente Mutation zweier Klangzeitalter, war das Initial. Es hat sich, verkörpert in Gestalt des enthusiastischen Durchhaltevermögens eines britischen Pianoforte-Narren mit Namen Michael Latcham zwei großen bundesdeutschen Tastenkünstlern förmlich aufgedrängt. Mit großem Durchsetzungsvermögen haben die beiden es zur Welt gebracht. Dazu nötig war freilich auch der Idealismus, der Geschmack, die Bildung (und das Geld) einer Frau wie Eva Coutaz. Sie starb, als vermutlich eine der für längere Zeit letzten ihres Formats, im Frühjahr 2021 und war die Chefin eines, 1958 von ihrem Mann Bernard Coutaz gegründeten, einst hochinteressanten Plattenkonzerns mittlerer Größe namens Harmonia Mundi France.
Friede ihrer Asche. So etwas wie diese Vis-á-Vis-CD ist in der Welt, sie bleibt. Sie ist herunterladbar und leider – Smily! – jederzeit auf Youtube und Spotify anzuhören. Sie widmet sich, außer, dass sie anfassende Musik klanglich unfassbar spirituell ans Ohr und in den Körper bringt, unaufdringlich umfangreich dem Thema „Mozart und Bach im Spiegel eines Jahrhundertinstruments“. Beschrieben wird da der historische Moment des Zustandekommens einer, auf ihre Weise neuen, über Haydn hinaus gehenden Art von Polyphonie. Alfred Einstein nennt Beispiele, er zieht ein Resümee. Es rückt das Problem in das für den Gegenwartsbezug unseres Themas nicht unwichtige Um- und Widerfeld eines späteren, diesmal recht aufdringlichen Jahrhundertgenies.
„Es gibt dergleichen Dinge bei Mozart hundert- und tausendfach (die Integration von „galant“ und „gelehrt“, d. A.); sie sind Zeugnisse jener ‚zweiten Naivität‘, für die nur ein Paar Meister in allen Künsten prädestiniert waren und die eigentlich ein langes Leben voraussetzen (…). Manchmal zeigt er seine Kunst ein wenig offener, indem er, am Ende eines Satzes, dem motivischen Material einen neuen ‚Contrapunkt‘ hinzufügt; bald launig, wie im Finale des Es-Dur Streichquartetts KV 428, bald mit innigstem Gefühl, wenn er im Andante cantabile des C-Dur Quartetts KV 465 mit einer Coda abschließt, in der die erste Violine ausspricht, was hinter dem dialogisch-kombinatorischen Spiel des Seitenthemas verborgen schien. Man vergleiche solche Dinge mit der auftrumpfenden Polyphonie des ‚Meistersinger‘-Vorspiels, und man wird fühlen, was gemeint ist. junge Welt, August 2022
Mozart am Stein Vis-á-vis – Christine Schornsheim / Andreas Staier am Hammerflügel von Johann Andreas Stein (Harmonia Mundi France)