Heiner Goebbels.Stifters Dinge.

Es ist ungeheuerlich. Wie kann ein Stück Musik, das aus neun Stücken Musik besteht (von denen durch die Bank nicht sicher ist, ob für das, was sie sind, noch der Begriff „Musik“ eine gute Wahl ist), wie kann solch ein Stück Reize und Assoziationen auslösen, die buchstäblich alle Sinne ansprechen? Und dann: wie soll man Wesen und Gestalt von Heiner Goebbels‘ Stück „Stifters Dinge“ überhaupt beschreiben, welches Genre bedient es?

Obwohl es eine CD mit der akustischen Erscheinung des Stücks gibt, ist „Stifters Dinge“ von Idee und Präsenz her Kunst für ein Life-Erlebnis. Die Leute betreten eine ausreichend große Halle. Im Dunkel, sparsam ausgeleuchtet, mehrere flache Wasserbecken, drum herum eine Art Maschinenpark, eine dunkel theatralische Aura. Kein Vorhang. Eins sitzt unmittelbar im Geschehen, mehr in als an der Bühne.

„Licht, bewegte und unbewegte Dinge, Projektionen, Bühnenregen, Nebel, Trockeneis, aufgezeichnete menschliche Stimmen, verstärkte Klänge, hervorgebracht“ (von Musikinstrumenten) „und von zu Klangerzeugern umfunktionierten Dingen, variieren einander sukzessiv und simultan“, so der Musikwissenschaftler Rasmus Nordholt Frieling in seinem Buch „Musikalische Relationen“.

Eine Vielzahl maschinenhafter oder naturhaft schürfender oder lauthals wie tropfender Regen in Erscheinung tretender Klänge metallischer, hölzerner, steinerner oder flüssiger Natur erwartet die Anwesenden. Die Wasserbecken füllen sich. Ein von unsichtbarer Hand über groben Untergrund gezogener Steinklotz gibt sich geräuschvoll zu erkennen. Dazu vom Computer die Stimmen von Ureinwohnern irgendeiner zeitfernen Weltgegend. Ein akustisches Welttheater voller Imaginationsschübe und Gedanken an Klimaschutz, Kolonialismus, Überlegungen über den Unterschied von Syntax und Semantik in der Sprache. Eins sitzt an und in der Bühne wie als ihr Teil in einer imaginären Welt aus Klängen und einer Sorte Sprache, die selbst Musik ist wie die Musik Sprache. Mindestens drei der fünf Sinne sind im Spiel: Augen, Ohren, Nase.

https://www.heinergoebbels.com/works/stifters-dinge/4

In zwölf „Songs“, die unter Überschriften wie „Nebel“ / „Salz“ / „Wasser“ / „Wind“ / „Die Bäume“ / „Das Ding“/ „Die Küste“ / „Der Sturm“ aneinandergereiht sind, ruft Heiner Goebbels die Elemente und einige archaische Monumente der Naturerscheinung wach – er lässt wachrufen. Aber fürs Publikum sichtbar gibt es keine Performer. Alle akustischen Begebenheiten, die sich in Geräusche, in Klänge verwandeln, die zu Tönen werden, welche sich zu Melodien bis hin zum Thema des a-Moll Orgelpräludiums BWV569 von Bach formen – werden im Moment, da sie erklingen, von Maschinen erzeugt; die Klaviere lassen ohne direkte menschliche Einwirkung von sich hören. Das Ganze geht komplett von Algorithmen aus.

Aber romantisch umfassender und zugleich modern intensiver als in dieser Sorte – ein Angebot – MaschinenTheaterMusikInstallation, hat kein Dvorak, kein Wagner, kein Bruckner und keine Sechste Mahler die Welt als Naturereignis und globales Netz von Klangerscheinung und Sprache in Musik hereingeholt in die Seele.

Heiner Goebbels

Die genannten Größen der Musik vergangener Zeiten bleiben groß. Aber groß eben innerhalb einer bestimmten Art musikalischer Formation, die sich seit dem Ausgang des Mittelalters in Mitteleuropa gebildet hat. Heiner Goebbels geht neue Wege, radikaler neu als etwa die den Musikgeneigten bekannten „neuen Wege“ Beethovens. Denn die Art und Weise, wie Goebbels mit dem umgeht, was bei ihm unterm Strich ein, wenn nicht neuer, so doch radikal erweiterter Begriff von Musik und ihrer Praxis ist, lässt vermuten: sein Komponieren sieht sich und seine Ästhetik signifikant weniger eingebunden ins Netzwerk der Tradition, als es beim komponierenden Beethoven bis zuletzt in der Missa der Fall war. Beethovens großartige Neuerungen stellten in der Konsequenz das Überkommene, dessen Existenz riskierend, infrage. Aber darum geht es Goebbels nicht. Sein Verhältnis zur ihn umgebenden Welt ist im Vergleich zur Tradition – hier macht das aktuelle Reizwort endlich einmal Sinn – dereguliert. Er zitiert, collagiert, montiert, was an äußerer Natur, an Tradition, Geschichte oder Gesellschaft vors Künstlerbewusstsein tritt. Er lässt, es in akustische Wellen verwandelnd viel freier als die Alten, etwas Neues daraus werden. Goebbels zerstört die alte Musik nicht, er verweist sie, wohin sie gehört und wo sie schon lang ist: ins Museum. Wer wissen will, was draußen in der Welt vorgeht, besorge sich Goebbels CD “Stifters Dinge“. Der im Song „Trees“ („Wald“) mit einem langen, von Goebbels mit seiner Art Klangmaterial wie ein Lied komponierte Text des österreichischen Dichters Adalbert Stifter (1805-1868) ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch in einem guten (historisch, materialistisch, dialektisch) Museum noch viel über die Welt draußen zu erfahren ist.

Heiner Goebbels/Klaus Grünberg/Hubert Machnik/Willi Bopp: Stifters Dinge (Universal/ECM; spotify)

Heiner Goebbels/Klaus Grünberg/Hubert Machnik/Willi Bopp: Stifters Dinge (Universal/ECM; spotify)

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