Lahusen.Schubert.Valses sentimentales.Gasteiner.

Über Nikolaus Lahusen sprechen heißt, von der Unwahrheit des Leistungsprinzips reden und davon, wie der Markt angeblich alles regelt, in diesem Fall die Entwicklung von Großbegabungen. Zu sprechen wäre auch von der Fatalität eines frühen Todes. Früher Tod klingt nach Schubert. Es gilt auch für Lahusen. Auch ihm war ein Künstlerleben beschieden, in dem die Anerkennung die Leistung nicht annähernd erreichte. Wie Schubert starb Lahusen zu früh, 2005 mit 44 Jahren an Krebs. Zumindest auf dem Hammerflügel, Lahusens Alleinstellungsinstrument, ist Schubert der einzige Komponist, mit dessen Musik sich der in Bremen gebürtige, lange in Mexiko lebende, Pianist der Nachwelt auf Tonträgern überliefert hat.

Die eine der zwei hinterlassenen Hammerflügel-CDs präsentiert Schuberts drei Klavierstücke D 946 und die letzte Sonate B-Dur. Die zweite befasst sich, typisch für Lahusen, mit selten aufgeführten Werken, neben der „Gasteiner Sonate“ den „34 Valses Sentimentales“. In ihnen liegt die Ahnung einer Zeit, in der die Magie der Volksmusik in Wien noch frisch herüberwehte aus den Dörfern ringsum. Schon Stadtmusik, noch nicht abgetrennt aber schon weit weg vom Land in Sichtweite; der Zeitvertreib eines Einsamen, der sich voller Wehmut der letzten Atzenbrucker  Ferien erinnert. Die Fülle dessen, was er dort in den Wirthäusern, bei den Festen auf den Tennen der Höfe, in den niedrigen Bauernstuben, gehört hat in einfachstem Instrumentarium, wirkt nach wie durch einen Schleier. Fern ist das alles. Verwandelt lebt es in seinem Herzen wieder auf. Der Walzer in der nachdrücklichen Einfachheit seiner Lebensfreude ist Fleisch vom Fleisch der Tarantella, des Kasatschok, Fandango, Sirtaki, der Rumba, des Tango und Reggae, unabweisbar wie etwas Vorgeburtliches.

Nikolaus Lahusen

Anders als Mozart und Beethoven habe Schubert, sagt die Literatur, nicht viele Variationen komponiert, das Zerlegen thematischen Materials lag ihm nicht. Er variierte aber in Hunderten Walzern den uralten Dreierrhythmus in kaum je sich wiederholenden Erfindungen, gab seinen Walzer-Miniaturen immer neue Farben, Beleuchtungen, Stimmungen – für jeden Meter Entfernung vom Landleben eine besondere Variante. Und ja, wenn der kleine Mann mit dem Zwicker auf der kurzen Nase über den wulstig sinnlichen Lippen am Klavier saß bei seinen „Schubertiaden“ und dem Walzer immer neue Seiten abgewann, begannen die Leute zu tanzen, nicht nur im Geist. Spätestens bei Nummer 13 in A-Dur blieben sie stehen oder nahmen Platz, kratzten sich am Kinn und lauschten.

Der kleine Mann am Pianoforte war berühmt für seine Lieder und diese kurzen, gar nicht mehr ländlich einfachen Walzer-Improvisationen. Aber das „Große“, die „letzten Dinge“ wie die großen letzten Sonaten, die letzte C-Dur Sinfonie  nahm man ihm nicht ab. In Nummer 13 passieren sie en passant. Leicht wie ein Fesselballon aus Klang hebt sich dieser Walzer in ein nächtliches Elysium. In der Gondel das Publikum. Es wiegt sich im Abendwind. Die Linke des Pianisten agiert in Dreierbewegung, die rechte in Zweierbewegung. Ein Zwitter aus Wiegenlied und Nocturne. Lahusen lässt diesen und viele andere Eindrücke in den 34 Walzern auf eine Weise entstehen, die natürlich wirkt. Kein Tastenlöwe, ein Matador technisch vollkommener Stimmigkeit. Bemerkenswert sein unauffälliges Rubato, das Pianissimo, Lahusens Kunst des Abschattierens, die nie spannungslose, immer fließende Dramaturgie.

Valses Sentimentales D 779 #13

Wenn er im Booklet über seine Conrad Graf-Hammerflügelkopie von 1835 redet, sagt Nikolaus Lahusen viel auch über sich selbst und seine bislang immer noch übersehene, außergewöhnliche, sensibel kluge Klavierkunst: „Durch die Vielfalt der möglichen Farben kann jede dieser Miniaturen ihr eigenes, unverwechselbares Kolorit bekommen und führt uns zu den Klängen der Wiener Heurigen (Hackbrett, Zither), der Stehgeiger oder auch zu den ungarischen Zigeunern. Dass unser moderner Flügel diese Klangmutation nicht durchführen kann, ist möglicherweise der Grund, dass wir heute diese Tänze nicht mehr im Konzertsaal hören können.“ Junge Welt, Juli 2019

Schubert: 34 Valses Sentimentales, Sonate D-Dur D 850 op. 53 „Gasteiner“ (Celestial harmonies; nur im Online-Großhandel erhältlich).

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