Weihnachten, das bedeutet immer öfter: nassweißes Winterwetter in Rom und Damaskus. In Oslo und Hamburg aber: Nie wieder kalter, trockener Schnee für Wochen, nie wieder dieses Knarren unter den Sohlen spät abends, wenn es bitterkalt ist und Atem und Glühwein dampfen unterm Silberglitzersternenzelt.
Weihnachten, das ist auch die Zeit, da die Medien, speziell die Privatradios und die ihnen – „warte nur, balde“ – immer mehr gleichenden dritten Programme besonders viel klassische Musik verbrauchen als Geräusch- und Gefühlskulisse für ihren faulen Zauber. Wo sonst die Vivaldisierung marschiert, die Rossinisierung und die Largoisierung, glänzt in der Weihnachtszeit uneinholbar Sebastian Bach. Denn – Händel hin, Schütz her und Barockmusik überhaupt – Bach vor allem ist doch erst Weihnachten!
Aber natürlich der altvertraute Bach, störungsfrei und quotenfähig. Also etwa ‚Weihnachtsoratorium‘ (in einer Interpretation, wie wir sie schon als Kinder liebten) und ein Paar Häppchen aus den schönsten Konzerten des Thomaskantors plus ‚Ave Maria‘, gesungen von diesem netten blinden Italiener, wie hieß er doch gleich?
Wie weit Banalität, Gedankenleere und Aufblasbarkeit als Kernsubstanzen neudeutschen Medienalltags schon gediehen sind, mag ein Blick nach England zeigen. Dort wird der Klassiksender der BBC, eine echte Vergleichsgröße, in diesem Jahr zu Weihnachten an fünf Tagen Bachs mehr als tausend Stücke starkes Gesamtwerk präsentieren, wobei es offenbar niemand stört, dass am zweiten Feiertag – ‚mitten im kalten Winter‘ – die österliche ‚Matthäuspassion‘ erklingt.
Also der andere und wenig bekannte, der unwarenförmige Bach, auf den man sich hörend zubewegen müsste, um ihn, gleichsam arbeitend, zu genießen. Zum Beispiel die sechs Violinsonaten, die Andrew Manze, der aktuelle Weltstar der Barockgeige, zusammen mit drei Einzelwerken der Gattung aufgenommen hat. Als Extra und Schmankerl hat er die Orgel-Toccata in d-moll für die Sologeige „rekonstruiert“. Die berühmten ersten Töne dieses Stücks, das zu Bachs bekanntesten zählt, obwohl es gar nicht von Bach ist, klingen anfangs wie ein Hilfeschrei ins Leere. Manze nutzt dessen dreimalige, immer tiefer gestufte Wiederholung, um die hohe und
erfinderische Kunst seiner Tongebung zu demonstrieren: Fahl und opak beim ersten, gleißend transparent (oktaviert durch eine leere Saite) beim zweiten, farbig und körperhaft beim dritten Mal. Erst da klingt die Geige, wie man´s gewohnt ist: gerundet, gewärmt und erfüllt durch Vibrato.
Auch die übrigen Stücke dieser CD leben nicht zuletzt vom Einfallsreichtum und der technischen Fantasie Manzes. Er füllt nicht – negativ – die Lücke, die sein nur sporadischer Vibratogebrauch in vibratofixierten Ohren hinterlässt, sondern erfindet – positiv – immer neue Gestaltvarianten des Einzeltons, so dass das Vibrato nur mehr eine Zutat unter vielen ist, die die Musik je nach Gestimmtheit und Logik erfordert.
Mit Ausnahme der Toccata handelt es sich, genau genommen, um Triosonaten. Denn die Hände des begleitenden Cembalisten, Richard Egarr, spielen rechts die zweite Stimme, die freilich meist die Geige begleitet, und links die meist als Basso Continuo grundierende dritte, die Manze – wie seinerzeit Bach – gelegentlich per Gambe oder Cembalo verstärkt durch Jaap ter Linden. So steht ein Klangapparat zur Verfügung, der die Ausdruckswelt dieser neun Sonaten, einer Art gedanklichen und klanglichen Konzentrats der groß orchestrierten und hochgestimmten Bachwerke, üppig pulsierend und reich an Abwechslung darzustellen vermag.
Und wem partout an Weihnachten nach Oratorium und musizierenden Großformationen und Großformen verlangt, dem und der sei Gustav Mahlers Achte Sinfonie anempfohlen, die Sinfonie der Tausend, in der von vorn bis hinten gesungen wird und die sonst immer viel zu groß erscheint für zwei Ohren und viel zu hehr und erhaben für so ein kleines Hörerherz. Nun aber ist sie Kent Nagano, bei vollem Personal und inklusive Orgel, Frühlingshymnus und Faust-Finale, fast kammermusikalisch übersichtlich und leidlich fassbar gelungen. Mahlers einzige Sinfonie ohne Zusammenbrüche und bittertiefe Jammertäler. Viel Jubel, gute Ratschläge und alles – nur keine stille Nacht. Freitag, Dezember 2001
(ich schrieb von 1994 bis zum Verkauf der Wochenzeitung 2008 für den damals noch von Günther Gaus herausgegebenen FREITAG den „Lauschangriff“)
J.S. Bach: Violinsonaten BWV 1014-1019, 1021,1023, 1024, Toccata und Fuge d-mol BWV 625 – Andrew Manze, Richard Egarr, Jaap ter Linden (Harmonia Mundi USA); Mahler: 8. Sinfonie – Dawson, Gambill, Rootering ua., Rundfunkchor Berlin, Deutsches Symphonie Orchester, Kent Nagano (Harmonia Mundi France)