Klassik.Kinder

„Wie die Bildhauer und Maler, welche ihn darstellten, das Werk ihrer Vorgänger einer nach dem anderen idealisierten, bis der Komponist gleich einem homerischen Gotte vor uns stand, so hat sich in der Beethoven-Literatur ein ähnlicher Prozess vollzogen. Könnten die auf die Erde zurückkehren, welche ihn persönlich kannten, sie würden in diesen Bildnissen niemals die kurze muskulöse Figur und das pockennarbige Gesicht ihres alten Freundes wiedererkennen. Man unterdrückte das, was gewöhnlich und trivial erschien, bis man ihn zu einem Wesen gemacht hatte, welches erhaben und getrennt von den übrigen Menschenkindern in dem ihm eigentümlichen Reiche gigantischer Ideen lebte und in seiner Musik geheimnisvolle Enthüllungen über unaussprechliche Dinge machte“.

Übermenschlich, unbegreiflich, unberührbar. So stellt sich, von dem großen US-amerikanischen Beethoven-Biographen Alexander Wheelock Thayer bereits 1865 beschrieben, in vielen Belangen noch heute eine „Klassik“ dar, deren Akteuren so langsam dämmert, dass sie die meisten Menschen eher befremdet oder gleich ganz kalt lässt. Das gilt für Kinder ganz besonders. Denn unverbildet und wach wie sie von Natur aus sind, reagieren sie, wenn man ihnen falsch oder gar verlogen kommt, offen gelangweilt und bringen das auch wunderbar brutal zum Ausdruck.

Kinder verlangen spontan und radikal, was viele Erwachsene seltsamerweise im Zusammenhang mit klassischer Musik als unseriös empfinden: Sie wollen unterhalten sein. Ihr Unterhaltungsbegriff ist allerdings noch unverschleimt von der platten Zuckrigkeit und Nichtigkeit all dessen, was die Märkte so täglich an „Unterhaltung“ in die Welt spülen. Kinder wollen lachen und weinen; der Kopf soll springen vor Sinn und Unsinn, Quatsch und Wahrheit. Derb soll es sein und ganz leicht kitzeln. Nur nicht ablenken von allem, was wichtig ist. Bauch und Herz sind wichtig, die sollen weich werden, das tut gut. Für Kinder, sagt Gorki, muss man arbeiten wie für Erwachsene, nur besser.

Was haben sie uns in meiner Jugend nicht angeödet mit ihren priesterlichen Schulaufführungen. Man konnte vor lauter Weihrauch und Wichtigtuerei kaum atmen. Die feist in Samt und Seide eingeschnürten Arme und Hälse dicker Sängerinnen schwabbelten bei jedem Ton. Es war zum Piepen. Aber gerade das war verboten. Die Albernheiten mit denen man bis zuletzt auch bei jeder Echo Klassik-Gala meinte, Kunst ans Volk bringen zu müssen, waren kaum weniger peinlich, künstlich und überflüssig.

Auftritt bei den Bachtagen in Thun, August 2015

„Ergebenster Diener, mein Arsch ist kein Wiener“ meinte Mozart am Ende eines seiner Briefe. Er liebte es, die von ihm geschätzten Weine – im zweiten Finale des „Don Giovanni“ ist es der noch heute gut zu trinkende Marzemino aus dem Trentino – in seinen Opern anzupreisen. Sein Diener Leporello zittert derweil unterm Tisch dem tragischen Ende seines Herrn entgegen. Was ihn aber nicht hindert, schnell noch ein Hühnerbein vom Tisch zu klauen. Warum soll das Kinder nicht amüsieren, wenn man es ihnen auf eine Weise erzählt, die ihren Bedürfnissen entgegenkommt? Auch das wenig später zu erlebende Ende des Wüstlings – ein Wort, das Kinder lieben! – ist in seiner Drastik und höllenschreienden Dramatik wie für Kinder gemacht. Leporello unterm Tisch sorgt mit seinen komisch knieweichen Kommentaren dafür, dass niemand sich ängstigt.

Was noch alles dazugehört, dass Kinder sich an klassischer Musik freuen? Zuerst natürlich ein Bildungswesen und eine Gesellschaft, die von ihrem Selbstverständnis her atmosphärisch und ökonomisch bereit und in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass nicht nur die Paar Kinder der Oberschicht eventuell ein bisschen Spaß an Musik haben. Die Instrumente der in einem bewundernswerten Klassikorchester-System musizierenden Kinder aus den sich der Marktwirtschaft verdankenden Slums Venezuelas sind von einem Staat bezahlt, dem nicht in erster Linie volle Supermarktregale für zahlungsfähige Luxuskonsumenten wichtig sind. Die aus dem Prekariat kommenden venezolanischen Nachwuchsmusiker spielen außerhalb der Konzertsäle mit Sicherheit nicht nur Mozart und Mahler. Wenn es am Ende keine Rolle mehr spielt, ob es sich bei der Freude an Musik um Rap oder Jazz, Tango oder Rock’n Roll handelt, um Salsa, Hip Hop oder Schubert / Cage / Lachenmann, wäre am Ende auch für die klassische Musik alles geleistet. Denn zu deren Abkapselung durch einen unseligen Seriositätsbegriff kommt ein fragwürdiges Reinheitsgebot und ein Naserümpfen anderen Musikgattungen gegenüber. Kindern wird so etwas anerzogen in einem Gesellschaftssystem, das auf Segregation in allen Bereichen angewiesen zu sein scheint. Kinder, wenn man es ihnen nicht abgewöhnt, sind  neugierig, offen und begeisterungsfähig für alle Arten und Zeitalter von Musik.

Die Volksrepublik Chinje a, um endlich positiv zu werden, reagierte nach dem großen Bankenkrach 2008 als einziges Land mit einem staatlichen Investitionsprogramm in gigantischen Dimensionen. Darüber freuten sich, wie mir je ein Mitarbeiter erzählte, auch ein großer Musikverlag und eine Konzertflügel-Fabrik in Hamburg. Denn von der dreistelligen Milliardensumme, um die es im fernen Osten ging, profitierten auch die in wachsender Zahl in der Volksrepublik vorhandenen Konservatorien und Musikhochschulen. Sie orderten Noten und Klaviere in Stückzahlen, von denen man nicht nur in Hamburg träumt. Für die chinesischen Kinder, sollte man meinen, ist in Zukunft nicht nur musikalisch eher besser als schlechter gesorgt.      Junge Welt, Mai 2018

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Fragments I.Currentzis.Musikvideo

Der Film ist besser als der Roman. Oder umgekehrt. Oder, wie etwa in Christian Petzolds Verfilmung von Anna Seghers‘ „Transit“, hat eines mit dem anderen irritierend wenig zu tun. Eine alte Diskussion. Es gibt verschiedene Erzählweisen. Auch bei Musikvideos. Die einen bebildern – gut und weniger gut – nur die Musik. Andere gehen anlässlich der Musik eigene, vielleicht am Ende bessere Wege.

Aber Musikvideos mit Beethoven, Bach oder Mahler? Hat meines Wissens noch niemand versucht. Da kommt Teodor Currentzis gerade recht. Mit seiner aktuellen Veröffentlichung schaut er wieder einmal zu den von ihm mit so viel Neugier und Gewinn beobachteten Pop- und Rockkollegen hinüber. „Fragments“ nennt er das Projekt: jede Folge bringt nur eine Szene aus einer Oper, sozusagen ein EP/Mini-Album, eine Auskopplung. Auf „fragments I“ geht es ums Vorspiel zum dritten Akt und um Violettas Arie „Addio del passato“ aus Verdis „La Traviata“. Wie alle anderen Folgen wird auch diese von einem von verschiedenen Filmemachern hergestellten Musikvideo begleitet.

Bei Rock und Popmusik handelt es sich, mit herausragenden Ausnahmen wie etwa Jimi Hendrix‘ „Star Sprangled Banner“, durchweg um Vokalmusik. In ihr muss nur die instrumentale Begleitung zu den gesungenen Texten und zur Art passen, wie sie vorgetragen werden. In der Klassik dagegen ist seit Entstehung des Kunstlieds aus dem Volkslied im späten Mittelalter schon das Verhältnis des Worts zur begleitenden Instrumentalmusik problematisch. Bis hin zu Mozart stritten sich anlässlich von Opernproduktionen Poeten und Musiker, wer wessen Diener und Dienerin sei. Die Vertreter von Wort wie Musik fürchteten, durchs jeweils Andere in den Schatten gestellt zu werden. Wort, Musik – und nun auch noch laufende Bilder?

Die klassische Instrumentalmusik gilt schon deshalb als „absolute Musik“, weil sie dieses Dilemma hinter sich ließ. In ihr – auch in klassischer Vokalmusik – entstehen bei Aufführungen im magischen Dreieck zwischen Komponist-Interpreten-Hörenden per Imagination und Assoziation so viele Inhalte, Vorstellungen, Gefühle wie Ohrenpaare anwesend sind. Die Hörenden arbeiten mit. Bilder stören das faszinierende Kollektivprodukt Musik, sie sind redundant, denn sie entstehen von selbst in allen, die gut zuhören. Soweit der Purist.

Wenn aber, so die Liebhaberin, durchs Video nennenswert mehr Menschen aufmerksam auf in diesem Fall Verdis himmlische Musik würden – wäre das großartig. Currentzis probiert es aus. Das Traviata-Video ist auf Youtube abrufbar. In grobkörnig rauchigem Schwarzweiß und melancholischem Grau schaffen die Filmer von NOIR an der Grenze zu edelstem Kitsch eine expressionistische Parallelwelt zur Musik. Auch die Sänger, die Musiker und Currentzis selbst – allesamt leben und arbeiten in Sankt Petersburg – sind in unwirklich weichzeichnendes Halblicht getaucht. Die Musik pur – auch das, soweit mir bekannt, ein nach Zukunft riechendes Novum in der Klassik – gibt’s nicht physisch, eins kann sie als Bezahl-File auf den einschlägigen Plattformen herunterladen.

Nadeshda Pawlowa

Das Vorspiel wirkt zunächst wie der kleine Zwitter eines Mahler-Adagio, spätromantische Verklärung durch gesellschaftliche Ächtung hervorgerufener Einsamkeit. Durch Herauslösung aus dem dramatischen Fluss der Opernerzählung bekommt das Ganze etwas zu viel sinfonisches Gewicht. Nadeshda Pavlovas Sopran, mädchenhaft schmal geführt, voller Lebensangst, bei aller Präsenz sparsam timbriert, ihr undivenhafter Verismus überzeugen dann allerdings ohne Abstriche. Pavlova und ihre Arie sind der Höhepunkt, sie ist das Ereignis. Currentzis Ausnahme-Kapelle musicAeterna ((bitte exakt so!)) spielt wie immer faszinierend sicher in einer Perfektion, die nie leblos wirkt. Nur gelegentlich irritiert der Luxus der ihr auferlegten dynamischen Hyper-Raffinesse. Spätromantik wie gemalt von Gerhard Richter, geladen allerdings mit der Energie eines Eugène Delacroix.  Ein Pilot-Schmankerl, ein Lockangebot. Hoffentlich klappt‘s. Junge Welt, Feburar 2021

Fragments, Part 1 Traviata – musicAeterna / Nadeshda Pawlowa / Teodor Currentzis (Sony Classical)

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Schumann.Faust-Szenen.Gerhaer.NDR-SO.Hengelbrock.

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Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“ am letzten Donnerstag und Freitag in der Hamburger Laeiszhalle. Volles Haus. Riesenbesetzung. Nicht allein quantitativ – die Bühne randvoll mit Rias Kammerchor, NDR Chor, NDR Sinfonikern und Solisten. Auch qualitativ. Denn an der Spitze eines großartigen Sänger-Casts stand der weltweit derzeit beeindruckendste Schumann-Sänger Christian Gerhaher als Faust.

Ein seltsames Stück. 150 Jahre fast vergessen. Seinem Schöpfer hängt bis heute der Makel an, gegen Ende seines Lebens auch schöpferisch von der finalen Geisteskrankheit beeinträchtigt gewesen zu sein.

Gounod machte eine Oper aus dem Stoff, Berlioz eine dramatische Legende; Wagner und Liszt komponierten eine Ouvertüre, Mahler eine Riesensinfonie. Bei Schumann nichts dergleichen. Seine Faust-Szenen haben von allem etwas. Sie passen in keine Schublade.

Von den exakt 12111 Versen des Welttheaters aus dem Land der Dichter und Denker finden sich in Schumanns Komposition 600 wieder. Dass diese 600 dann auch noch zur Hälfte allein aus der Vertonung der letzten Hälfte des letzten Aktes bestehen, verrät: Schumann ging es nicht um die Handlung. Er war kein Dramatiker wie Mozart, den Goethe als Idealbesetzung für die Komposition seines Faust sah. Bei Mozart wäre Mephisto ein diabolischer Bariton gewesen (bei Wagner ein ätzender Tenor wie Mime). Bei Schumann ist er ein Bass, kein bisschen fies, nur leicht bedrohlich (Albert Dohmen, solide, ein altgedienter Wotan).

Statt Handlung Lieblingsstellen aus Goethes Text. Einige singt in Hamburg, höhensicher und einfühlsam, Christina Landshamer als zunächst unschuldiges, später auf dem Weg in den Wahnsinn zur Heroine mutierendes Gretchen. Gut durchhörbar, glasklar akzentuierend greinen etwa in „Ach neige, Du Schmerzensreiche“ die Celli hinter- und untergründig, es meldet sich mit dem „Dies irae“ erstmals gravierend der Chor. Schumann, das dämmert spätestens hier, instrumentierte höchst einfalls- und abwechslungsreich (schöne Melodien waren nie sein Problem), und die NDR Sinfoniker unter ihrem derzeitigen Chef Hengelbrock bringen das spielfreudig zum Ausdruck.

Nächste Lieblingsstelle: Faust erwacht – „Gelenk sind bald die krampferstarrten Glieder“ – aus heilendem Schlaf. Ariel (ein stimmstarker, farbiger Lothar Odinius) und der Chor, beweglich und detailgenau trotz Riesengröße, lassen die Saat „in schwanken Silberwellen“ der Ernte zu wogen. Dann ein großer Sprung ans Ende. Die „vier grauen Weiber“. Schumann erfasst sie klanglich geisterhaft. Bei Goethes genialer Beschreibung psychischer Depression, der Sorge, fällt auf: Schumann komponiert meist am Text und weniger das, was der Text beschreibt.

Aber die gigantischste High End-Anlage vermag das Erlebnis nicht zu vermitteln: Wie Gerhahers Bariton in den großen Faust-Stellen – sehr anrührend dann auch als Pater Seraphicus und Doctor Marianus – mit buchstäblich sanfter Gewalt die umbaute Konzerthallen-Luft erfüllt. Die Wirkung verdankt sich anderen Paradigmen als Lautstärke und äußerem Glanz; alles an dieser Stimme scheint im besten Sinn „innerlich“. Obwohl er jede Silbe, jeden Endlaut, jede Veränderung von Dynamik oder Farbe präzis und klug kalkuliert, klingt es einfach wie der Inbegriff von Natürlichkeit. Ein Wunder. Ein Glück.

„Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn / auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“ – Fausts Schlussmonolog singt Gerhaher nicht, postmodern, als letzte Fieberphantasie eines sterbenden Deppen. Sondern als Utopie und Quintessenz eines in aller negativen Dialektik über den physischen Tod hinausreichenden, dem Streben nach Erkenntnis und Genuss gewidmeten Lebens.

Was danach kommt, die Himmelfahrt von Fausts „Unsterblichem“, hat in Goethes kunstreich verrätselter Mixtur diverser Mythologien Generationen von Leserinnen und Lesern ratlos gelassen. Schumann bietet hier alles auf, große Chöre, Fugen, Arien und Ensembles, er schichtet, webt ineinander, lässt die Musik in großen Wellen, laut und leise, an die Ufer der Herzen schlagen. Und endlich – „Wer immer strebend sich bemüht“ – meint man den letzten Goethe zu verstehen. Auf Augenhöhe ist das mit Beethovens Schlusschor. Junge Welt, November 2015

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CONTRALTO.Nathalie Stutzmann.Orfeo55.

»Contralto« steht weiß auf schwarz auf rot auf dem Cover. Zentral posiert Nathalie Stutzmann in schwarzer Lederjacke mit aufgelöstem schwarzem Wuschelhaar vor neutral rotem Hintergrund. Sex sells. Auch in der Klassik. Die sexistisch einfallslose Idee könnte sich immerhin auf Stutzmanns Stimme beziehen; sie verfügt über Energien, die man mit Recht als erotisch bezeichnen darf. Zudem möchte man vielen der auf dieser CD zu hörenden Barockarien einen gewissen Sexappeal nicht absprechen.

Nun hat die Produktionsfirma Erato dem Projekt mit barocken Contraltoarien, gesungen und geleitet von der französischen Altistin und Dirigentin Stutzmann, ein Video mit auf den Weg gegeben. Auf ihm ein Barockensemble bei der Aufnahme der Händel-Arie »Mio cor, che mi sai dir?« Am Pult – das es im Barock noch gar nicht gab, aber es gab ja auch noch keine Aufnahmestudios – Stutzmann bei der Arbeit, kein Stück sexy: eine temperamentvolle Frau mit Brille in bequemem Outfit. Sie hält per Ganzkörpereinsatz die Kapelle in Schwung. Das müsste sie nicht. Wenn Stutzmann singt, kann sie nämlich nicht dirigieren, sie leitet dann sozusagen vom Mund aus, das genügt vollkommen. Ihr sie begleitendes Ensemble Orfeo 55, Männer deutlich in der Minderheit, ist wie von selbst voll auf Draht. Musik machen, wie die Kunst überhaupt, sagt uns das, ist in erster Linie Arbeit, auch wenn die Arbeit im Fall der Musik und überhaupt in der Kunst ein schönes schweres Spiel ist.

Nun präsentiert sich, seit ich denken kann, klassische Musik im öffentlichen Raum als etwas Festliches, weihevoll Entrücktes. Ich habe noch im Schwarzweißfernseher der 1960er Jahre Mozart-Konzerte erlebt, da traten die Sänger mit Perücken im Barockkostüm auf, später im langen oder halblangen Silbernen, die Herren in gehobenem Abendanzug oder Frack. Von der Decke des Studios hingen barockisierende Elektrokerzenlüster, an der Wand ovale Blindspiegel. Auf die Idee, dass all das, vor allem die Musik, im Glücksfall gelingende Arbeit war, wäre damals niemand gekommen.

Nathalie Stutzmann im Studio bei der im Schweiße ihres Angesichts gelingenden Arbeit zu zeigen – als das eigentlich Attraktive, das wirklich Werbende: Bis in die obere Schicht des Bewusstseins der Marketingverantwortlichen für klassische Musik ist das offenbar noch nicht gedrungen. Solch ein Video aber – Probenmitschnitte wie diesen gibt es inzwischen einige – geht richtige Wege.

Sehr anders als bei der Revolution besagen in der Musik die beiden Vorsilben »Contra« vor einem Instrumentennamen einfach: Es klingt besonders schön tief. Der Tonumfang von Stutzmanns Alt reicht so weit nach unten, dass sie problemlos die – schon im Barock und infolge des Wirkens historischer Aufführungspraxis auch heute – fast nur von Männern gesungenen Contraltopartien singen kann. Ihrer Stimme fehlen, könnte man sagen, die gewisse Schärfe, die kernigere Substanz und alles andere, was männliche Contraltos charakterisiert. Diese ermangeln umgekehrt der natürlichen Impulsivität, der barocken Lebendigkeit und alles anderen, was weibliche Contraltos auszeichnet und was Stutzmann in der Tat unverfälscht und frisch über die Lippen kommt.

Sie hat sich als Sängerin in den Opernhäusern und Konzertsälen der Klassikwelt seit den 1990er Jahren einen Namen gemacht. Dirigenten wie Seiji Ozawa oder Colin Davis, mit denen sie arbeitete, stehen nicht unbedingt für aufführungspraktische oder interpretatorische Erneuerung. Um so überraschender und erfreulicher, mit welch kraftvoller Selbstverständlichkeit sich diese Musikerin auch als Dirigentin in der heute hegemonialen historisierenden Barockmusikpraxis bewegt.

Eine auf hohem Niveau unterhaltsame Produktion. Barock ist nicht immer nur Bach und Kirche. Es ist Menschenwelt und Lebenswelt, prallbunte Energie von vor 300 Jahren. Von da, wo heute Deutschland ist, stammt keine der Nummern der CD. Und wie sieht’s mit Händel aus? Er war, als er die große Musik komponierte, Engländer. Mit Migrationshintergrund. Junge Welt, Januar 2021

CONTRALTO – Nathalie Stutzmann / Orfeo 55 (Erato/Warner Classic)

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Dessner.Tenebrae.

Der US-amerikanische E-Musik-Komponist Bryce Dessner ist von Haus aus Rockgitarrist und Songwriter. Schon in den dahinrasend rhythmisierten ersten Takten von „Aheym“ am Beginn der neuen CD mit seinen Werken spürt eins – Kraftmusik. „Um ehrlich zu sein“, sagte der Elbphilharmonie-Residenzkünstler von 2017, nachdem er das Hamburger Ensemble Resonanz (ER) gehört hatte, „die Energie und Präzision der Gruppe war schon irgendwie schockierend.“ Er übertrieb nicht, er arbeitet seither mit ER. Das Ensemble spielt Dessners Musik auf der neuen CD.

Dessner ist nach wie vor Teil der mit seinem Bruder Aaron gegründeten New Yorker Indie-Rockband „The Nation“. In seiner Musik allerdings: Philipp Glass, Steve Reich und wenig von – Gott schütze sie! – Bands wie „Sonic Youth“ oder „The Strokes“. Minimal Music nicht als Vorbild, aber als ferner Ausgangspunkt, als individuell eingerichtetes Fundament. Dessner füllt die Endlos-Repetitionen der Minimal-Gründer mit der Kraft des Rock’n Roll und einer harmonischen und rhythmischen Unterhaltsamkeit und Unabhängigkeit, die aus dem Bedürfnis nach intellektueller Abwechslung kommt, aus allgegenwärtiger Inspiration und dem unzerstörbaren Charme, der düsteren Larmoyanz rebellischer Jugend. Er vermarktet nichts. Er schummelt sich nicht einträglich durch, er ist kein Populist. Aber fähig zu einer Popularität ohne Design und schräge Moden. Stoff für den kritischen Teil des Publikums.

Brice Dessner

Ein gebildeter Musiker. Dessners Fantasie hat einen musikgeschichtlichen Horizont, sein Komponistenblick kann schweifen. Aber seine Musik mag sich wenden, wohin sie will, sie bleibt in all ihrer tonalen Konventionalität in jedem Ton Kunst der Zeit, in der sie entsteht. Assoziationen zum Aussuchen. „Tenebre“ etwa entfaltet die farblich-räumlich-dynamische  Wirklichkeit einer zwanzigköpfigen Streichergruppe in einer Weise, die uns Heutigen die Faszination vor Ohren führt, die die Zuhörerinnen einer Beethovensinfonie der „heroischen Periode“ erlebt haben müssen. Im selben Stück werden aus minimalistischen Schemata sphärenhafte Schemen. Für mich taucht bei 2’30“ Mendelssohn auf, er kehrt bei 8’02“ mit einer Art Streicherfuge wieder, die mich spontan an die bei Dessner zwar nicht mehr elegante, aber immer noch klassizistische Klarheit der frühen Streichersinfonien Mendelssohns erinnert. Sie endet morgenländisch – auch solche Idiome beherrscht das fabelhafte ER – und mündet erneut in eine von der sciarrinohaft konzertierenden Geige geweihte Flageolette-Welt, in die ein gezupftes Cello rhythmisierend eingreift. Umsonst. 

Die Musik macht sich auf sattem Bassfundament von jeder Erdenschwere frei, sie will hinauf, gen Himmel. Aber dort wartet Moses Sumneys elektronisch verstärkte Herz- und Kopfstimme 3.0. Sie gleicht sich den Streichern an, mischt sich. Aber die Reise, geht nicht zum lieben Gott, sie will ins Psychedelische. Kein „Credo“ und „Cruzifixus“ am Schluss des „Tenebre“. Es läuft auf etwas wie die Stimmung am Ende von John Lennons Song „A day in the life“ aus dem legendären „Seargent Pepper“-Album hinaus. Noch im Streichtrio „Skrik“ hat Dessners Musik einen motivisch wie klanglich hinreißend inspirierten, von Barbara Bultmann (Geige), Tim-Eric Winzer (Bratsche) und Saerom Park (Cello) vollendet inszenierten Impuls von Gegenwart. Die neben außergewöhnlichem Können große Vehemenz und Dringlichkeit, in der hier komponiert und musiziert wird, ermuntert dazu, die Welt infrage zu stellen: In ihr wie in Dessners Musik ist etwas, das das – renditegetrieben immer dürftigere – Leben nicht bloß erhalten will, sondern endlich wirklich ermöglichen.

Bei allem Zeug zu besten Chartplätzen traut man Dessner zu, unabhängig zu bleiben. Nicht nur wegen der Qualität. Mehr noch der Kraft seiner Musik wegen, die sich seltsamerweise nicht mehr der musikalischen Urwurzel Volksmusik zu verdanken scheint, sondern der Minimal Music. Deren Erfinder, erfährt man dann allerdings beim näher Hinschauen, fühlten sich neben allerhand anderem vor allem von fernöstlicher Volksmusik (Gamelan) angeregt. Der späte Kolonialismus versorgt das transatlantische Abendland bis heute offensichtlich nicht nur mit dem materiellen Reichtum anderer Weltgegenden. Junge Welt, Oktober 2019

Brice Dessner: Tenebre – Ensemble Resonanz (Resonanzraum Records / Harmonia Mundi).

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Boccherini.Bijlsma.Casals Quartett.Europa galante.

Mein Gewährsmann, als er noch Cello spielte, war berühmt, unter Cellisten weltweit eine Legende. In jungen Jahren verzichtete er auf eine Weltkarriere als Solist, er spielte über Jahrzehnte nur Kammermusik. Angesprochen auf die unangefochten einzigartige Musik Joseph Haydns, pflegt er zu sagen: „Mein Gott ist größer!“ Anner Bylsma räumt indes ein, er sei in dieser Frage als Cellist nicht objektiv. „Wenn Gott zu den Menschen durch Musik reden möchte“, zitiert er den im 18. Jahrhundert geborenen Geiger Jean-Baptiste Cartier, „würde er dafür eine Symphonie von Haydn nehmen. Möchte er aber selbst ein bisschen Musik hören, würde er zweifellos ein Werk des berühmten Boccherini wählen“.

Bylsma liebt und vergöttert den italienischen Komponisten  Rodolfo Luigi Boccherini. Denn der hat den größten Teil seiner Werke erkennbar als Cellist geschrieben. Bylsma schwelgt auch vom Wesen dieser Musik. „Sie dient dir, es ist Musik, um dich glücklich zu machen“. „Dich“, das sind für Bylsma die Musiker, die beim Boccherini-Spielen durch den immer neu gemischten Klang, durch ständigen Wechsel der Stimmen, ihr Sichfinden in immer neue Paarungen und Koalitionen zu Endorphinorgien animiert werden. Er meint auch die Hörerinnen und Hörer, die sich, so im ersten Satz des Gitarrenquintetts G. 448 die Augen schließen und eintauchen in einen kastilischen Sommermorgen mit friedlich unter Schattenbäumen grasenden Stieren, kampierenden Landleuten, im Hintergrund  die blassblauen Riesen der Sierra de Gredos.

Am Hof des Infanten Don Luis in Arenas de San Pedro in den kastilischen Bergen fand Boccherini anstelle der Hofkapelle ein Streichquartett vor. Vom mithin doppelten Cello des so entstandenen Streichquintetts war immer eines der beiden Celli von der Bassrolle entbunden. Die Geiger in Boccherinis 125 Streichquintetten wundern sich folglich oft, dass das erste Cello ständig über ihnen in der Partitur herumturnt. So auch im berühmten „Fandango“ am Schluss von G. 448, wo der Cellist, befeuert von Gitarre und Castagnetten und mit den Fingern der Linken immer am letzten Ende des Griffbretts herumtanzend, den lieben Gott einen guten Mann sein lässt.

Man könnte sagen, die neue CD des Casals Quartett präsentiere aus Gründen der Appetitanregung die Rosinen aus Boccherinis umfangreichem Oeuvre. Aber es gibt viele Rosinen! Alle Welt kennt nur immer das eine kleine Menuett von Boccherini. Seine originale Quartettfassung findet sich auf der CD. Beeindruckender allerdings die beiden Quintette, für die sich das Casals Quartett mit dem Cellisten Eckart Runge vom Artemis Quartett verstärkt hat. „La musica notturna delle strade di Madrid“, eines der frühesten Beispiele evokativer Musik; sie beschreibt auf mitreißende Art das musikalische Geschehen im nächtlichen Madrid des 18. Jahrhundert. Die durch Kommerzialisierung zum Schimpfwort verkommene „Folklore“ erweist sich hier einmal mehr als Elementarhumus für die Kunstmusik.

Boccherini hat sogar ein „Stabat mater“ komponiert. Für einen Sopran (Boccherinis erste Frau Clementina Pelicha) und ein Streichquartett, mehr gab der Infantenhof nicht her. Im Minuetto des Quintetts op. 42 Nr. 2 zeigt er nicht nur seine unvergleichlich komplette und abwechslungsreich variative Satzkunst, es ist typisch Boccherini auch, weil er hier, wie fast überall, auf den europaweit zu seiner Zeit kanonisierten Sonatensatz verzichtet. Die Musikwissenschaft straft ihn bis heute mit fast kompletter Nichtbeachtung. Der Stein wird ihr irgendwann selbst auf die Füße fallen. Derweil schafft sich Boccherinis rhythmischer Kosmos eine ganze Welt für sich und wiegt sie in nichts als purem Wohlgefühl. „Typisch Cello!“, sagt mein Gewährsmann. Junge Welt, 2013

Boccherini: Streichquintette op. 6 + -quartett g + Gitarrenquintett – Casals Quartett + Eckart Runge (Harmonia Mundi France); Streichquintette op. 42 + Stabatmter/Invernizzi/L’Archbudelli/Bylsma (sony/jpc); Streichquintette op. 25 + Gitarrenquintette-Europa Galante/Biondi (virgin/jpc)

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Rameau.Sound of Light.Currentzis.

Klassik sieht sich als „ernste“ Musik. Große Teile ihres Publikums strafen immer wieder alles, was  Spaß macht, gewohnheitsmäßig mit Verachtung. „Unterhaltung“, von Euripides bis Kafka, von Breughel bis Chaplin war in den Tempeln der Klassik lange Zeit ein Schimpfwort.

Schluss damit! sagte sich irgendwann der griechische Dirigent Teodor Currentzis. Wenn Unterhaltung im Lauf des 19. Jahrhunderts im Prozess wachsender Verwertungszwänge auch für die Musik mehr und mehr aus dem Zusammenhang von Kunst herausgelöst wurde, ist das nicht irreversibel. „Rockmusik findet sich nicht damit ab, dass sie in eine bestimmte Realität gestopft wird und nicht mehr herauskommt“, so der Grieche. Warum soll sich die Klassik damit abfinden?

Entgegen Neigungen, Barockmusik infolge eines allzu gotteslastigen Bachbildes bevorzugt für Kirchenmusik zu halten, klingen uns in Currentzis’ neuer Rameau-CD Lied und Tanz in den Ohren als wahrhaft heilige Wunder des Diesseits. Statt hehrer Chöre und strengem Kontrapunkt begegnete den Kulturbesitzern des Barock, da sie auf Wirtshäuser verzichten konnten, derlei vor allem in der Oper.

So geht es auf der CD im Opern-Ballett „Les Fetes d’Hébé“ in der langsamen Einleitung, erotisch verhalten, in glühend dunklen Farben los. Dann bricht zu Ehren der Terpsichore eine Musette aus. Terpsichore, sagt Wikipedia über eine der neun Musentöchter des Zeus, ist die „Reigenfrohe“, die „Tanzfreudige“.

Farben, man denke an die Bilder Frans Hals’ oder Nicolas Poussins, spielen nicht nur in den Gemälden des Barock eine Rolle. Currentzis erleuchtet sie auch in der Musik. Im magischen Liegeton der Streicher anfangs der Szene II/IV von „Platée“ etwa sind, Currentzis sorgt dafür, György Ligetis farbig atmende Tonflächen vorweg genommen.

Das Barock nimmt sich auch – per Genreszene oder bukolischem Idyll – den nichtgöttlichen, nichtadeligen Menschen und seine Lebenswelt zum Gegenstand. Im sechsten der „Six Concerts“, bringen Rameau und die Holzbläser von Currentzis’ fabelhaftem Orchester musicAeterna – lange vor Haydns Sinfonie „La Poule“ – ein glucksendes, Würmer pickendes Huhn vor die Ohren. Und wenn die Sopranistin Nadine Koutcher im zweiten Akt von „Platée“ mit dem Singen beginnt, ist es mehr ein Sprechen und Keifen, sie gurgelt und grimassiert mit der Stimme, gackert in den Koloraturen, klar, sie stellt eine dumme Gans vor. Und im Rondeau aus „Les Sauvages“ stampft der Tanz so vital auf die Eins im Vierertakt, dass man ahnt, wie leicht es den   Militaristen gefallen sein mag, sich die Musik in Form des Parademarschs einzuverleiben.

Die Streicher in der Ouvertüre zu „Zoroastre“ klingen mit packenden Springbögen wie Schlagwerk. Zusammen mit dem Blech sausen sie in der sinfonischen Eröffnung von „Nais“ durch herrlich schräg harmonisierte Synkopen einer kontrapunktisch zerklüfteten Partitur; Carl Philipp Emanuel Bach, der älteste Sohn des heiligen Sebastian, ist auf diesen Wegen weitergeschritten. In der abschließenden Air aus „Castor et Pollux“ tönen die Streicher, die konzertierenden Hörner und schließlich der engelgleich von Vibrato befreite Sopran eichendorffumwaldet und weberisch wie deutsche Romantik.

Schön, dass es ein junger Grieche ist, der da die Klassik neu erfindet. Griechenland scheint derzeit am Zug*. Zumindest Teodor Currentzis hat große Chancen, am Zug zu bleiben.      Junge Welt, März 2015

Jean-Philippe Rameau: THE SOUND OF LIGHT – Nadine Koutcher / Alexei Svtov / MusicAeterna / Teodor Currentzis (Sony Classical)

* Der Text wurde zur Zeit des Aufbruchs der griechischen Linkspartei SYRIZA geschrieben, als der im weiteren Verlauf von der EU domestizierte Alexis Zipras noch der Held der europäischen Linken war.

Jürgen Kesting verzweifelt am Don Giovanni (2021)

Brachmann 2019

Brachmann 2017

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Franui.Florian Boesch.Alles wieder gut.

Es könnte »Die CD danach« werden, Musik für die Zeit, da vielleicht noch nicht alles, aber doch Lockdown, tägliche Verdrängung der Angst, die Tage daheim allein und die lange Sehnsucht nach der wirklichen Nähe der wirklichen anderen endlich vorbei sind. »Alles wieder gut« heißt das neue Projekt des Ensemble Franui. Nie gehört den Namen? Selbst schuld. Mir ging’s nicht anders. Franuis elfte CD war meine erste Begegnung mit dieser »intelligentesten Dorfkapelle der Welt« (Volker Hagedorn).

Das Dorf, das der Welt Franui geschenkt hat, liegt 1.400 Osttiroler Meter über dem Meer und hat den schönklingenden Namen Innervillgraten. Franui sei, so beschreibt der innervillgrater Trompeter Andreas Schett die künstlerische Entwicklung dieser Kapelle, immer »von einem Kuhfladen in den nächsten« gestiegen. Die zehn Musiker bilden eine »Musicbanda«, das ist im Ladinisch des rätoromanischen Teils der Dolomiten eine Musikkapelle. Ihre Musik will bei aller Volkstümlichkeit im Ernst natürlich nicht auf Kuhfladen hinaus. Eher auf musikalische Raffinesse, Witz und feine Klangideen. Franui bleibt dem Städter damit so sicher im Ohr, wie Osttiroler Kuhkacke, einmal betreten, am Schuh kleben bleibt.

In »Alles wieder gut« singt der Tenor Florian Boesch romantische Lieder. Er trägt die altvertrauten Worte Eichendorffs, Heines, Wilhelm Müllers oder Goethes so empfindsam und gefühlvoll vor, wie er es täte, begleitete ihn eine Dame im schwarzen Langen am Konzertflügel oder der entsprechende Herr im Frack. Aber wenn Franui Florian Boesch begleitet, ist nur die gesungene Melodielinie von Schubert/Goethes »Heideröslein« oder von »Der Tod und das Mädchen« noch original. Zwei der zehn Dorfmusiker, Andreas Schett und Kontrabassist Markus Kraler, haben mit ihren Arrangements einen Zeit- und Lichtwechsel bewirkt. Das ländlich Romantische im Klang der zwei Klarinetten und

Florian Boesch

Trompeten, der Harfe und der Zither, der Posaune, der Tuba, der einen Geige und des Hackbrett ist, für Momente noch ahnbar, durchsetzt und ersetzt vom neusachlichen Klang einer Moderne, wie sie, rasend präzise und klar, Komponisten wie Hanns Eisler oder Kurt Weill nach dem Ersten Weltkrieg komponierten. Großartig, wie Boesch sich ohne auch nur den Anschein von Stilbruch oder Angestrengtheit mit den 200 Jahre älteren Texten dazu verhält. Er muss sich nicht behaupten, er singt und alles stimmt zusammen.

Hans Zender ist vor Jahren mit seiner »komponierten Interpretation« der Schubertschen »Winterreise« ähnliche Wege gegangen. Vermutlich ist Franuis Anspruch weniger hoch, das Ergebnis bewegt sich auf ähnlichem Niveau. Wie großartig diese Liedbearbeitungen sind, hört eins allein daran, wie gut sie das Ohr für die Texte schärfen und wie in dieser Klanggestalt verblüffend aktuell sie auch inhaltlich sind. Die Liedbegleitung gewinnt in bester Schubert-Tradition bei Franui ohne Funktionsverlust ästhetische Autonomie. Mögen die Mitglieder von Franui, wie es in den Liner Notes heißt, »großenteils« in Innervillgraten »aufgewachsen« sein: Sie waren gewiss alle irgendwann für längere Zeit unten im großen Welttal und haben dort sehr gründlich an irgendeiner Hochschule das Musikmachen gelernt.

Solch Alpinavantgarde im Geist technisch hochversierten, geschmacks- und stilsicheren Umgangs mit der Tradition hatten wir bisher noch nicht. Dass sie uns gefehlt hat – die Pandemie lehrt es schon viel zu lange –, weiß man immer erst hinterher. Junge Welt, Januar 2021

Alles wird gut – Florian Boesch / Franui /col legno)

CDREVIEWS

Tobias.Koch.Schubert.Die drei letzten Sonaten.

Schubert war zu Lebzeiten, wenn überhaupt, durch seine Lieder bekannt. Dass er ganze Sinfonien schrieb, Kammermusik und 22 Klaviersonaten war fast nur seinem Freundeskreis bekannt. Eine Unzahl Skizzen, Entwürfe, Fragmente verrät, wie wichtig ihm das Soloklavier war und wieviel Mühe er sich damit gab.

Die von Mai bis September 1828 im unmittelbaren Schatten des nahenden Endes entstandenen drei Sonaten c-Moll, A-Dur und B-Dur liegen in zahllosen Einspielungen vor. Ihre Interpreten werden, unterschiedlich überzeugend, der Tragik eines sich noch einmal mächtig aufbäumenden Lebenswillens, einer, obschon in ihrer Entwicklung unabgeschlossenen, großen Meisterschaft gerecht. Sie bewegen sich dabei weitgehend in einer im Lauf der Zeit entstandenen Schubert-Konvention aus technischer Unbeschwertheit, einem mit dem Risiko der Glätte behafteten Gleichmaß der Fortbewegung und einer in aller Traurigkeit und Tiefe stabilen Selbstverständlichkeit des Ablaufs. In seiner kürzlich erschienen Neuaufnahme der drei letzten Sonaten geht der Hammerflügel-Enthusiast Tobias Koch etwas anders zu werke.

Die Eingangs-Sonate findet seit langem weniger Beachtung, sie wird seltener aufgeführt als die Folgenden. Ihre Tonart c-Moll ist die der fünften Sinfonie, der Pathétique und der letzten Klaviersonate Beethovens, seine Hammertonart. Das lässt sich denn auch in den einleitenden Kraftakkorden hören. Schubert hatte das vergötterte Vorbild stets im Kopf, kompositorisch öffnete es ihm Türen, er ging hindurch; fand dann aber – woher nahm er die Sicherheit? – stets auf Wege, die einzig ihm gehören.

Koch wirft seinen eigenen Blick auf solch beethovenerfüllte Unabhängigkeit. Er stellt in der c-Moll Sonate den Übergang vom Ton beethovenscher Kraft ins schubertsche Idiom lyrischen Singens, auch Schuberts Dialektik beider Welten, zart eindringlicher dar als viele andere. Das ihm vom Tiroler Landesmuseum für diese Einspielung zur Verfügung gestellte Wiener Pianoforte von 1835 aus der Werkstatt Conrad Grafs hilft sehr dabei. Der Diskant ist schärfer, die Register, vor allem der Bass unendlich klangvariabler, charakteristischer und farbiger als beim modernen Instrument. Sein wundersam transparentes Volumen lässt die Materie hören, das Holz von Korpus und Mechanik, das Metall der Saiten – nichts vom von allen Schlacken des Diesseits bereinigten Komfort-Tonraum eines modernen Flügels.

In der Tarantella des Finalsatzes der c-Moll Sonate, im Scherzo der B-Dur Sonate und in anderen leichtlebigeren Sonatenteilen zeigt Koch durchaus, wie gut er, wenn er will, schnelle Tempi mit Witz dahinfließen lassen kann. Aber er will nur, wo es ihm frommt. Er bricht den Fluss des Eröffnungssatzes der A-Dur Sonate durch kaum merklich längere Pausen, absichtsvolle Rubati, betonte Vorschläge. Er „entglättet“ sogar die Vertikale, zieht einzelne Töne vor die Akkorde oder schlägt den Leitton, den Akkord zum Vorschlag machend, nach. Selbst in den fast allgegenwärtigen Arpeggien, Scalen und Triolenketten glaubt eins der Musik ihren Fortlauf oft nur bis zum übernächsten Takt.

Bei mehrmaligem Hören wird eine Idee erkennbar. Außer dass es Tobias Koch zu gefallen scheint, alle im Gehalt der Musik erlaubten Spielfreiheiten zu nutzen,  fügt er der Leichtigkeit genialer Einfälle Schuberts, seiner satztechnischen und harmonischen Raffinesse, der ungebrochenen Kraft seines Genies eine Ahnung erschöpfter Bewegung hinzu. Schubert, von den finalen Folgen der Syphilis gezeichnet, unfähig, Nahrung bei sich zu behalten, schleppte sich während der Arbeit nach eigenem Bekunden vom Schreibtisch und Pianoforte zum Bett und wieder zurück.

Tobias Koch

Kochs Konzept verhindert allenfalls die Bestätigung liebgewordner Hörerfahrungen, nicht das Erlebnis der Größe dieser so innenwelthaltigen Sonatentrias. Wer die anfängliche Fremdheit aushält, wird vielleicht auch die Bereicherungen dieser Aufnahmen hören. So etwa die qua Einsatz zweier Moderator-Pedale in einigen Wiederholungen des Hauptthemas in der Eröffnung der A-Dur Sonate so nur den alten Instrumenten mögliche Klangdarstellung ätherisch leichter Traumverlorenheit der Musik Schuberts. Oder im Anfang der B-Dur Sonate den berühmten Basstriller, der – so unterirdisch tief; Alfred Brendel hat in ihm die „Eröffnung einer dritten Dimension“ gehört – jener fast digitalen Klangausgewogenheit des modernen Konzertflügels nicht möglich ist. Wer sich von dessen Standards nicht losmachen kann, wird beim Wiederauftauchen des Trillers die in den Klang zurückgenommen bedrohliche Dynamik nicht verstehen, wenn Schubert nach dem im Zitat der vier Anfangstöne der Fünften gipfelnden Bezug auf den Geist Beethovens, dessen Lösungen ausschlägt. Er bricht ab und kommt auf sein beschwingt trauriges Anfangsthema zurück. Kochs Langsamkeit, fern von der Markenzeichenhaftigkeit etwa eines Claudio Arrau, hat dieses Thema davor schon im Bass wie einen Trauermarsch erscheinen lassen.

Andantino der A-Dur Sonate D 959

Die gebrochenen Begleitakkorde des Andantino der A-Dur Sonate extrem stumpf, der Bass wie getupft: dunkeltrockene Staccatotropfen; die karge Herrlichkeit der Melodie darüber erst einsam, dann wie Hilferufe. Den zunächst seltsamen, dann gewaltigen Mittelteil leitet Koch einleuchtend rezitativisch ein, im Gestus unwirscher Fantasie geht es auf den cis-Moll Zusammenbruch zu. Koch gibt dieser formal unergründlichen Abirrung von irdischer Ordnung, man weiß nicht wie, einen Anschein von Logik. Einem kleinlauten Träumer wird da scharf auf  die Finger geschlagen, sein Ausweg: eine herzenswarme Überleitung ins moderatorumdämmerte Zuhause des nun traulich leuchtenden Eingangsthemas. Auch im letzten Satz der letzten Sonate, in dessen Anfangston und überhaupt als Kontrastprinzip erneut Beethoven west, wieder der pedallose Bass. Schubertvertraute mögen das Ganze als Provokation empfinden. Ein an anders disponierte Lesarten dieser Musik gewöhntes Ohr neigt zur Ablehnung, fühlt sich beim ersten Hören von fern an die Extravaganz Glenn Gouldscher Dekonstruktionen Mozarts oder der Romantiker erinnert. Möglich aber auch, dass Kochs Interpretationen die Erkenntnis fördern, wie nicht mehr Wiener Klassiker und schon gar noch nicht Romantiker Schubert war. Tobias Koch hat sich etwas im gängigen Klassikbetrieb, betriebswirtschaftlich bedingt, rar Gewordenes erlaubt: Er trotzt dem Mainstream, er wagt. Und gewinnt Schubert Freunde da, wo bisher vielleicht kaum jemand war.

Zukunftsmusik. Franz Schubert: Die letzten drei Klaviersonaten – Tobias Koch, Fortepiano Conrad Graf (musikmuseum / note 1)

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Beethoven Cello- und Kammermusik. Klahn/Hörr/Katte.

Es ist eigentlich das Schönste am hinter uns liegenden Beethoven-Jahr: Beethovens Musik wird weiterhin gespielt, aufgelegt, heruntergeladen, gestreamt und gepostet werden. Ihre Energie und ihre Magie haben keine Halbwertzeit. Da ist es gut, zu Beginn des neuen, von Impfungen hoffentlich gesegneten Jahres zwei neue Beethoven-Produktionen vorzustellen.

Ein Weimarer Beethoven sozusagen. Der Tonsetzer war zwar nie in Weimar. Aber von den drei Musikern der CD mit Kammermusik Beethovens und einer zweiten Doppel-CD mit seinen Cellosonaten, sind zwei so gut wie aus Weimar. Pianoforte-Spielerin Liese Klahn war von 2002 bis 2018 Leiterin von Melos Logos, dem Festival der Klassik-Stiftung Weimar. Naturhornist (und Naturhornbauer) Stephan Katte, Solist der Hornsonate, lebt als gebürtiger Weimarer in seiner Heimatstadt. Cellist Peter Hörr ist zwar nur zugezogen, hat es aber von seiner Cello-Professur an der Leipziger Hochschule nicht weit bis ins Ilmtal.

Bis auf eines sind alle Stücke der Kammermusik-CD aus der Zeit der Wiener Akkumulation des jungen Beethoven. Er konnte in den 1790er Jahren, nach seinem Wegzug aus Bonn, mit den gedruckten Ausgaben seiner Klavier- und Kammermusik in der neuen Heimat gutes Geld verdienen. Gassenhauer wie Mozarts »Bei Männern, welche Liebe fühlen« aus der »Zauberflöte« oder jenes Stück aus Händels Oratorium »Judas Maccabäus«, das bei uns unter dem Namen »Tochter, Zion« Karriere als Adventslied machte, fanden in Form von Beethovens Variationen viel Zuspruch bei einer wachsenden Zahl von Hausmusikbegeisterten. Über die Einnahmen freute sich der Komponist nicht weniger als über den mit den Editionen weit über die Konzertsäle hinaus gehenden Zuwachs an Bekanntheit seiner Musik in den Salons und Gartenzimmern der Oberschicht.

Die ihre im Klang spürbare Materialität nicht hinter perfektem Gleichmaß verbergenden alten Instrumente erlauben einen intimen Zugang zur Kammermusik. So hört man Peter Hörrs intensiven Kontakt mit den Darmsaiten bis hinein in jedes Rosshaar seines geharzten Barockbogens. Und so dämmrig wolkig und zugleich gut konturiert klingt in Beethovens früher Hornsonate nur ein – ventilloses – Naturhorn. Stephan Kattes Lippen und seine Hand im Schalltrichter formen die Töne mal weich und lyrisch, dann bis zu metallener Härte. Katte, ein herausragender Hornsolist, hat seine Leidenschaft gut unter viel Klugheit und Bescheidenheit verstaut. Das Baujahr der in diesen Aufnahmen erklingenden Tasteninstrumente, im »Andante favori« ist eines allein zu hören, liegt jeweils in der Zeit der Kompositionen. Liese Klahn spielt die faszinierende Eigentümlichkeit des Érard-Flügels von 1811, seinen langen natürlichen Nachklang, die farbliche Vielheit seiner Register, unaufgeregt und hellwach aus. Auch dieses alte Instrument erleichtert das Hören der musikalischen Form, eins kommt der Form hörend wie körperlich nah. Im leichten Hall des Aufnahmeraums im Weimarer Schloss (in Goethes Luft) sind in der Kunst der drei Musiker Beethovens extreme Vorstellungen von Dynamik – egal ob kraftvoll oder fein nuanciert – besonders deutlich wahrnehmbar.

In den fünf, symmetrisch über Beethovens Berufsleben verteilten Cellosonaten spiegelt sich seine stilistische Entwicklung. Mit den beiden frühen Sonaten war die Gattung erfunden. Das Cello, bis dahin allein fürs Bassfundament zuständig, wird von da an zum gleichberechtigten Partner kon­trapunktischer und melodischer Unternehmungen. Opus 69 lässt besonders schön hören, wie Beethoven keinem Instrument so viel Gesang gab wie dem Cello. Im Opus 102 schweift der alte Beethoven auch in diesem Instrumentalbereich noch einmal durch den Orbit seiner Musik, endend ebenfalls mit einer kurzen, gewaltigen Fuge. Hier hört man musikalisch belebt Gewichtiges, in Weimar gespielt von Interpreten, die sich der Herausforderung in allen Punkten gewachsen zeigen. Wer den Cello-Beethoven, den Beethoven kleiner Kammermusik noch nicht kennt, hätte mit diesen CDs den optimalen Einstieg gefunden. Junge Welt, Januar 2021

Beethoven: Liese Klahn/Peter Hörr/Stephan Katte: »Beethoven Chamber Music« (Ars Vobiscum/Arthaus) # Peter Hörr/Liese Klahn: »Beethoven Sonatas« (Ars Vobiscum/Arthaus)

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